Armin Laschet: Keine Deutsche Einheit ohne Johannes Paul II. und Solidarnosc

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Der Weg zur Wiedervereinigung begann mit der Wahl Karol Wojtylas zum Papst und der Gründung von Solidarnosc, sagt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet im DW-Interview.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU)

DW: Es ist Sommer 1980. In Berlin steht die Mauer, die symbolisch Europa und die Welt in zwei Teile spaltet. Sie sind damals 19 Jahre jung, Abiturient und bereits politisch engagiert. Und Sie hören Nachrichten über Streiks und weitere Proteste in Polen. Was hat das mit Ihnen damals gemacht?

Armin Laschet: Ja, ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit. Wenn man politisch engagiert und jung ist, beobachtet man das politische Geschehen natürlich sehr aufmerksam. Und alles, was mit dem Warschauer Pakt, mit der Sowjetunion, mit der Welt, wie wir sie kannten, zusammenhing, wirkte doch ziemlich starr und fest.

“Die Mauer steht auf ewig”, hatte ich immer geglaubt. Und dass ich es nicht mehr erleben werde, dass sie einmal fällt. Und dann gab es plötzlich diese Proteste von den Arbeitern auf der Danziger Lenin-Werft, bei denen es zunächst um Arbeitsbedingungen ging, aber am Ende auch um Freiheit. Und das hat mich damals sehr, sehr beeindruckt.

Poster mit dem Solidarnosc-Logo, unterschrieben von Lech Walesa und Poster-Designer Jerzy Janiszewski

So beeindruckt, dass Sie in Ihrem Zimmer ein Solidarnosc-Plakat aufgehängt haben…

… und das hat viele Jahre da gehangen.

Gab es damals noch etwas, was Polen für Sie so speziell gemacht hat?

Mich hat immer schon diese Besonderheit Polens im Warschauer Pakt fasziniert. Polen hat eine starke katholische Kirche, die den Widerstand gegen das Sowjetsystem auch bündeln konnte, hier hat sich Religiosität mit der nationalen Unabhängigkeit verbunden.

Wir haben noch vor Solidarnosc und diesem August 1980 die Wahl eines Polen zum Papst erlebt. Ab dieser Sekunde hat man sich natürlich mit Polen noch mal anders beschäftigt. Wo kommt Johannes Paul II. her? Was ist die Geschichte des Landes, aus dem er stammt? Und er hatte zwei Diktaturen erlebt: den Kommunismus, aber auch als junger Mann in der Nähe von Krakau den Nationalsozialismus. Und das hatte dann auch wieder viel mit Deutschland zu tun. Dieser Teil der polnischen Geschichte ist für einen Deutschen natürlich eher beschämend.

Ein Bild von Johannes Paul II am Tor Nummer 2 der Danziger Lenin-Weft während des Streiks im August 1980

Inwieweit hat Solidarnosc Sie politisch inspiriert?

Das deutsche Wort Solidarität war auch im Deutschen eingängig und so für viele nachvollziehbar. Das Engagement für Freiheit hat in dieser frühen Jugendzeit vieles von dem bewegt und bewirkt, was ich dann nachher gemacht habe.

Ich habe etwa eine Zeitschrift herausgegeben mit dem Namen “Libertas” – Freiheit. Und es war immer eine Hoffnung und Vorstellung, dass irgendwann dieser ganze europäische Kontinent frei leben kann. Auch wenn man daran noch nicht geglaubt hat, waren Solidarnosc und die Polen, die mutig auf die Straße gingen, ein Hoffnungszeichen.

Dieses Hoffnungszeichen wurde aber am 13. Dezember 1980 durch die Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski zunichte gemacht…

13. Dezember 1981: General Wojciech Jaruzelski verkündet im polnischen Fernsehen die Verhängung des Kriegsrechts

Ja, das war ein Moment der großen Enttäuschung. Es gab damals viele Erklärungsmuster. Das eine, was ich immer im Kopf habe, war, dass auch Wojciech Jaruzelski – selbst früherer Messdiener – eine Nähe zu der katholischen Kirche hatte und er das für sich so begründet hat, einen Einmarsch der Sowjets damit verhindert zu haben.

Derartiges sagen Machthaber sehr leichtfertig, wenn ihre Macht gefährdet ist. Aber dass hier Menschen miteinander gerungen haben, auch Lech Walesa und Jaruzelski, das habe ich damals schon als innere Spannung verspürt. Und als Grundgefühl blieb die Enttäuschung, man hätte sich mehr erhofft. Man hätte sich vielleicht erhofft, dass die Bewegung, die 1989 möglich wurde, schon früher, bereits 1981 möglich gewesen wäre.

Ich war zu dieser Zeit in München und lebte in einer Abtei in der Münchner Innenstadt. Dort waren mehrere polnische Professoren, die im Exil waren und versuchten, von dort aus ihre Familien zu unterstützen. Insofern habe ich auch von dieser Seite aus Erzählungen die Niederlage der Solidarnosc-Bewegung miterlebt.

Lech Walesa (2.v.l.) spricht 1980 vor Arbeitern der Lenin-Werft in Danzig

Die Entstehung von Solidarnosc hat in der damaligen westdeutschen Politik ambivalente Reaktionen hervorgerufen. Damals regierte der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt die Bundesrepublik. Solidarnosc war für ihn eher ein Störfaktor.

Es gab in all den Jahren immer die Frage: Wie verhält sich die deutsche Politik zu Demokratiebewegungen irgendwo in der Welt? Und die Sozialdemokraten haben mit der neuen Ostpolitik von Willy Brandt, seinem Kniefall in Warschau, mit den deutsch-polnischen Verträgen vieles in Bewegung gesetzt und hatten immer die Idee, “Wandel durch Annäherung” und möglichst ohne allzu große Provokationen herbeizuführen.

Vielleicht hat man deshalb in Deutschland die Freiheitsbewegungen im Osten nicht mit solch großer Leidenschaft im Blick gehabt, weil man dachte, das könnte das diplomatische Geschäft stören. Und man wusste ja auch nicht genau, wie die Bewegungen enden. Da war ich als 19-Jähriger freier. Es war für mich damals einfacher zu sagen, dass ich Sympathie für diese Bewegung habe. Man hat vielleicht nicht jede Konsequenz bedacht.

Vielleicht vergleichbar heute, wenn sich junge Leute mit den Hongkong-Demonstranten solidarisieren. Wenn Sie dann politisch tätig sind, haben Sie viel, viel mehr im Kopf und bedenken anders, was da passieren könnte. Als junger Mensch sind Sie auf Seite derer, die mutig aufstehen. So war das damals auch bei mir. Ich hätte mir von der damaligen Regierung Schmidt vielleicht eine größere Sympathie für die Bewegung gewünscht. Aber am Ende war sie trotzdem erfolgreich.

Solidarität aus Hannover: Rund 15.000 Pakete werden im Dezember 1981 pro Tag in Züge Richtung Polen verladen

Die westdeutsche Gesellschaft hat sich damals, 1982 und später, anders als ihre Regierung ganz eindeutig mit der polnischen Gesellschaft, nomen est omen, solidarisiert. Es gab zum Beispiel eine große Paket-Aktion für Polen.

Ja, die ganze westdeutsche Gesellschaft war ganz eng mit Polen verbunden, vielleicht am stärksten im ganzen 20. Jahrhundert.

DW: Dieses Jahr feiert Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung. Wie sehen Sie die Rolle, die Solidarnosc dabei spielte?

Ich glaube, dass es eine Kette auf dem Weg zu dieser Einheit gibt. Solidarnosc ist in dieser Kette ein ganz wichtiger Baustein. Begonnen hat sie vielleicht mit der Wahl des polnischen Papstes, der die Menschen beim Pfingstfest 1979 bei seinem ersten Polen-Besuch ermutigt hat, die Welt zu verändern.

Ein Denkmal für den “polnischen Papst” Johannes Paul II. in der polnischen Hauptstadt Warschau

Damals haben viele Mut geschöpft, dann entstand auch die Bewegung Solidarnosc. Ich weiß nicht, ob Solidarnosc und Lech Walesa denkbar gewesen wären ohne den polnischen Papst. Ob man so viel Mut aufgebracht hätte? Aber jedenfalls war es ein zweiter wichtiger Baustein. Und das hat zur Veränderung beigetragen.

Natürlich, die Wahl Gorbatschows war dann nochmal eine weitere Antwort, die eben nicht mehr die Gewalt von 1981 bedeutete, sondern den Wandel im gesamten System. Und da war Solidarnosc prägend in der Freiheitsbewegung. Ich bin sicher, viele Menschen in der damaligen DDR haben das auch als Vorbild für ihr Engagement genommen.

Es gab immer wieder Bewegungen, aber die polnische war mit Sicherheit eine der stärksten. Insofern ist es vielleicht eine Ironie der Geschichte oder ein Zufall der Geschichte, dass Helmut Kohl am 9. November 1989 ausgerechnet in Polen zu Besuch war. Einen treffenderen Ort hätte er sich eigentlich nicht wünschen können.

Polens erster frei gewählter Premier Tadeusz Mazowiecki (li.) und Bundeskanzler Helmut Kohl im November 1989

Inwiefern inspiriert die Solidarnosc Sie heute noch?

Es motiviert, wenn man Geschichten hört von Menschen, die in einer scheinbar aussichtslosen Situation trotzdem zur Veränderung beitragen wollen und aktiv werden. Das gilt für Solidarnosc, das gilt für die, die in Ostdeutschland damals auf die Straße gegangen sind. Das System stand fest, die Staatsmacht hatte alle Mittel und trotzdem haben die Menschen mit Friedensgebeten und friedlichen Mitteln diesen Wandel am Ende mitbewegt.

Und wenn man selbst politisch tätig ist, denkt man sich manchmal, die Probleme, die wir heute zu lösen haben, müssen doch lösbar sein, wenn andere in ganz anderen Situationen viel mehr Mut, Zivilcourage und Engagement aufgebracht und damit viel bewegt haben.

Sie wollen für den CDU-Vorsitz kandidieren, Sie werden auch als potentieller Bundeskanzlerkandidat genannt. Damit wären Sie auch für die Außenpolitik Deutschlands zuständig. Wie stellen Sie sich die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen vor?

Der EU-Gipfel im Juli in Brüssel war eine Antwort Europas nach der Pandemie. Und er hat es vermocht, nach dem Austritt der Briten, die 27 Staaten noch einmal zusammenzubringen. Man hat ein Finanzpaket bis weit in die 2020er Jahre hinein verabschiedet. Dem muss jetzt ein neuer Zusammenhalt von Ost und West, Nord- und Südeuropa folgen.

Die Fahnen von Deutschland, der Europäischen Union (EU) und Polen am deutsch-polnischen Grenzübergang in Frankfurt (Oder)

So wichtig für die europäische Einigung die deutsch-französischen Beziehungen sind, so wichtig ist es auch, die Staaten Mittel- und Osteuropas, und da herausragend Polen, wieder in diesen europäischen Prozess einzubeziehen. Das wird oft vergessen. Viele denken, wenn sie “EU” oder “Europa” sagen, nur an das “alte Westeuropa”. Ein amerikanischer Präsident hat mal vom “alten” und “neuen” Europa gesprochen und damit Europa spalten wollen. Dieser Spaltung müssen wir entgegentreten.

Dass die polnische Gesellschaft eine europäische ist, hat sich mindestens bei der Präsidentenwahl gezeigt,  als man gesehen hat, wie knapp das Wahlergebnis war und wie viele leidenschaftliche Menschen auch für Europa und die europäische Einbindung Polens geworben haben. Ich finde, wir als Deutsche sollten diese Signale aufnehmen und mit allen, die an guten Beziehungen interessiert sind, auch zusammenarbeiten.

Der 1961 geborene CDU-Politiker Armin Laschet ist seit 2017 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. An 25. Februar 2020 gab er seine Kandidatur für den Vorsitz seiner Partei bekannt.