“Wir wollen ihren Betrieb haben!”

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Teekanne, Kathi, Blüthner – Familienunternehmen haben eine lange Tradition in Ostdeutschland. In der DDR wurden sie verdrängt und enteignet. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind viele wieder da.

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Wo stehen ostdeutsche Firmen im Jahr 30 der Einheit?

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Wo stehen ostdeutsche Firmen im Jahr 30 der Einheit?

Es sind gerade einmal fünf Worte, die im Frühjahr 1972 beim traditionsreichen Leipziger Klavierbauer Julius Blüthner Pianofortefabrik endgültig alles verändern. “Wir wollen Ihren Betrieb haben”, teilt ein Mitarbeiter der sozialistischen Umwandlungskommission dem damaligen Unternehmenschef Ingbert Blüthner-Haessler mit. “Am 5. Mai wird der Betrieb verstaatlicht.”

Ingbert Blüthner-Haessler führt zum 125-jährigen Firmenjubiläum zwei Westberliner Journalisten durch den verstaatlichten Betrieb

Der junge Firmenchef, der erst sechs Jahre zuvor in vierter Generation die Leitung des 1853 gegründeten Familienunternehmens von seinem Vater übernommen hat, wird vor die Wahl gestellt: Entweder er bleibe als Leiter im Betrieb, oder man werde ihm mit einer Steuerprüfung “nachweisen”, dass er “viele Dinge falsch” gemacht habe. “Das wird dann Ihr Ende in der Klavierbranche sein”, droht der Abgesandte der DDR-Staatsmacht.

Kapitalisten beseitigen

Wie Blüthner-Haessler ergeht es 1972 vielen tausend anderen Inhabern von familiengeführten Firmen in der DDR. 11.800 werden in diesem Jahr in einer finalen Enteignungswelle verstaatlicht. So hatte es die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) im Februar beschlossen. “Zur Beseitigung der Kapitalisten”, wie es Erich Honecker, der Staats- und Parteichef unter dem Beifall seiner Genossen auf den Punkt brachte.

Dokumente in der Ausstellung: Mit den Enteignungen folgte die DDR Vorgaben aus Moskau

Allerdings sollen die Arbeitskraft und vor allem das Fachwissen der bis dahin privaten Unternehmer im Betrieb gehalten werden, denn die Produktion soll weitergehen wie bisher. “Bis Sonntag, 16. April 1972, war ich ein unerwünschter Kapitalist – ab Montagmorgen, 17. April, 7.00 Uhr ein Direktor der sozialistischen Arbeit”, kommentiert ein ebenfalls enteigneter Firmenchef damals seinen unfreiwilligen Berufswechsel.

Groß und staatlich statt klein und privat

An ihre Geschichte erinnert eine Ausstellung, die anlässlich des 30. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung in den Räumen der Stiftung Familienunternehmen in Berlin zu sehen ist. Auf großen Schautafeln sind viele Fotos und historische Dokumente abgebildet, die zeigen, wie nach Kriegsende zunächst in der sowjetisch besetzten Zone und anschließend in der DDR private Unternehmen verdrängt und enteignet wurden.

In Berlin dokumentiert eine Ausstellung die Geschichte der Familienunternehmen in Ostdeutschland

Im Osten Deutschlands betraf das vor allem den Großraum Berlin, Thüringen und Sachsen, die stark mittelständisch geprägt waren. Tausende Familienunternehmen reagierten schon unmittelbar nach Kriegsende auf die sowjetischen Demontagen und die drohenden Enteignungen mit der Abwanderung nach Westen.

Prominente Beispiele aus Sachsen

Den Kosmetikhersteller Wella zog es nach Darmstadt, das Unternehmen Teekanne zunächst nach Viersen und später nach Düsseldorf, die Reinecker AG und die Auto Union AG nach München und Ingolstadt. Ein Exodus mit weitreichenden Folgen. Der Westen Deutschlands profitierte von dem Know-how und dem unternehmerischen Potenzial der Flüchtlinge enorm, wie der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser schreibt.

Firmenabwanderungen aus Sachsen in den Jahren 1945/46

Die Verlagerung der vielen Familienunternehmen habe maßgeblich zur Stärke des Mittelstands in der Bundesrepublik beigetragen. Im Gegenzug bestehe im Aderlass des ost- und mitteldeutschen Unternehmertums nach 1945 ein wesentlicher Grund für den relativen ökonomischen Misserfolg der DDR, analysiert der Wissenschaftler.

Zentrale Lenkung

Die Familienunternehmer, die im Osten blieben, versuchten zunächst noch, sich mit den sozialistischen Machthabern zu arrangieren. Seit 1956 drängte sich der Staat mit zunächst freiwilligen, später auch erzwungenen Beteiligungen auf. Versprochen wurde eine gute Auftragslage. Gleichzeitig wurde aber immer stärker diktiert, was mit welchen Materialien produziert werden und wohin es geliefert werden sollte. Wer sich damit nicht abfinden wollte, dem blieb eigentlich nur die Betriebsaufgabe oder die Flucht in den Westen.

Die Enteignungen gingen direkt nach dem Krieg los und trafen nicht nur Nazi- und Kriegsverbrecher (Tafel aus der Ausstellung)

Zu denen, die nicht aufgeben wollten und bis zuletzt hofften, eine völlige Enteignung abwenden zu können, gehörten Bäckermeister Kurt Thiele und seine Frau Käthe. Das Ehepaar hatte den “Kuchen aus der Tüte” erfunden und produzierte unter dem Firmennamen Kathi neben Backmischungen erfolgreich auch Grundmischungen für Suppen, Soßen und Klöße.

Jede Erinnerung an die Familien auslöschen

Auch bei Kathi stieg der Staat schon in den 1950er Jahren ein. 1965 wurde Kathi der Export ins Ausland verboten, Verkäufe gegen Devisen sollten nur noch über den staatlichen Außenhandel laufen. 1969 wurde die Produktion aufgespalten, die Thieles mussten Maschinen, Rohstoffe und die Rezeptur gratis an einen volkseigenen Betrieb abgeben. Nur die Backmischungen durften sie weiter selbst produzieren.

Belegschaft der Kathi-Nährmittelfabrik in den 1950er-Jahren: In der Mitte das Ehepaar Thiele mit Sohn Rainer

1972 wurde die Kathi-Nährmittelfabrik komplett verstaatlicht und als VEB Backmehlwerk Halle weitergeführt. Auch der noch an das Familienunternehmen erinnernde Markenname Kathi sollte getilgt werden. Die Begründung: er wäre zu kapitalistisch-bürgerlich. Doch die völlige Auslöschung des Namens gelang nicht. Kurt Thiele hatte die Marke bereits 1951 registrieren lassen, lehnte die Löschung ab und zahlte auch nach der Enteignung weiter die Gebühren für den Schutz des Warenzeichens an das Berliner Patentamt.

Die Hoffnung blieb

Damit erreichten die Thieles, dass alle Verpackungen des volkseigenen Betriebs weiterhin den Namen “Kathi” tragen mussten. Zwar wurde der Schriftzug stark verkleinert, aber er blieb immer präsent. “Kleiner machen konnten sie uns, aber nicht einfach auslöschen”, kommentierte der Sohn der Firmengründer, Rainer Thiele das später.

Vitrinen in der Ausstellung

Er war es schließlich, der im Februar 1990, nach dem Fall der Mauer, die Reprivatisierung beantragen konnte. Im Amt zur Regelung offener Vermögensfragen stößt er auf die Männer, die seine Familie 1972 enteigneten. Sie machen es Thiele nicht leicht. “Mühsam zusammengetragene Dokumente bleiben Monate unauffindbar, sind immer gerade unterwegs, wenn Unterschriften zu leisten sind, tauchen auf, um gleich wieder zu verschwinden”, erinnert er sich.

Schwieriger Neuanfang

Am Ende gelingt die Rückübertragung, doch der Wiederaufbau ist schwerer als gedacht. In den neuen Bundesländern sind Westprodukte zunächst gefragter als die alten Ostmarken. Rainer Thiele füllt in der ersten Zeit Mehl und Backmischungen für eine süddeutsche Firma ab, um das Überleben von Kathi zu sichern, er klappert die Handelsketten ab, um seine Produkte in die Regale der Supermärkte zu bringen.

Kathi – heute wieder in ganz Deutschland in den Regalen

Mit Erfolg: Kathi ist heute mit 90 Mitarbeitern und einem Umsatz von rund 30 Millionen Euro Marktführer bei Backmischungen in Ostdeutschland und bundesweit die Nummer zwei hinter dem Oetker-Konzern. Rainer Thieles Sohn Marco führt das Unternehmen in der dritten Generation mit seiner Frau.

Nur wenige Firmensitze zurück verlagert

Viele der in Ostdeutschland enteigneten Familienunternehmen sind den Weg der Reprivatisierung gegangen. Oft mit Erfolg. Auch von den Betrieben, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Sitz von Ost nach West verlegten, sind einige an ihre Gründungsstandorte zurückgekehrt. Die meisten unterhalten allerdings nur Niederlassungen in den neuen Bundesländern. Nur wenige haben auch ihren Firmensitz in den Osten zurück verlagert.

Auch die Leipziger Pianoforte-Fabrik ist wieder ein Familienunternehmen. Christian Blüthner-Haessler ist Firmenchef in fünfter Generation

Zusammen mit den vielen Neugründungen kleiner und mittelständischer Betriebe bestimmen sie heute die Unternehmenslandschaft in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Laut einer vom ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung erstellten Studie sind heute 92 Prozent der Unternehmen im Osten Deutschlands familiengeführte Unternehmen. Ihr Anteil ist damit inzwischen sogar ein wenig höher als im Westen.

Audio anhören 04:38

Familienunternehmen Schierker Feuerstein: Hörfunk-Reportage vom 27.10.1999