Hildegard von Bingen

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Am 7. Oktober vor acht Jahren wurde Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin ernannt. Welche Impulse kann eine Ordensfrau, die vor 900 Jahre lebte, heute noch geben? Die Benediktinerin Philippa Rath geht auf Spurensuche

Die Kirche steht derzeit an einem epochalen Wendepunkt ihrer Geschichte – weltweit und auch in Deutschland. In Krisenzeiten ist es gut, Wegweiserinnen und Wegweiser zu haben, Gestalten, die Halt und Orientierung geben können, Männer und Frauen, die gezeigt haben, dass es sich lohnt, dabei zu bleiben und gleichzeitig neue Wege zu gehen und dem Wehen des Geistes Raum zu geben. Solche Menschen gab es gottlob zu allen Zeiten. Hildegard von Bingen (1098 – 1179) war so ein Mensch. Am 7. Oktober vor acht Jahren wurde sie von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin ernannt, einige Monate zuvor, am 10. Mai, offiziell heiliggesprochen. Das Kirchenvolk hatte sie da schon hunderte von Jahren verehrt, lange bevor die Amtsträger in Deutschland und in Rom ihr Potential für eine Erneuerung der Kirche im 21. Jahrhundert erkannten.

Hildegard muss eine außergewöhnliche, charismatische Persönlichkeit mit großem Herz und weitem Geist, mit starker Überzeugungs- und weithin sichtbarer Ausstrahlungskraft gewesen sein. Sie sah sich als Werkzeug und Posaune Gottes, wollte die Menschen in gottferner und gottvergessener Zeit an Gott erinnern. Erinnern daran, dass ER die Menschen aus Liebe erschaffen und sie aus Liebe erlöst hat, dass die Liebe die ganze Welt bewegt und alles Leben und den gesamten Kosmos zusammenhält. Das war damals und ist auch heute noch keine weltfremde Utopie, sondern brandaktuell, hat konkrete Folgen und ruft jede(n) einzelne(n) in die Verantwortung.

Hildegard hat groß vom Menschen gedacht, hat immer wieder dessen einmalige Würde als Ebenbild Gottes betont, als Teil der Schöpfung, in der alles mit allem verbunden ist und unser Tun und auch unser Unterlassen entscheidenden Einfluss haben auf das eigene Leben und auch auf den gesamten Kosmos. Viele dieser Gedanken finden sich auch bei Papst Franziskus, in seiner Enzyklika „Laudato si“ und anderswo. Hildegard hat nicht weniges von dem vorausgedacht, was wir heute erleben und erfahren und wofür viele sich einsetzen: für Ehrfurcht vor allem Geschaffenen, für Friede als Frucht von Gerechtigkeit und Wahrheit, für einen barmherzigen Umgang miteinander und für einen maßvollen Umgang mit den Ressourcen des Lebens und der Erde. Und sie bezeugt auch, dass Leben nach konkreten Wertmaßstäben keine Beschränkung der Freiheit ist, sondern diese erst möglich macht, dass eine persönliche Beziehung zu Gott und die Bindung an IHN Voraussetzung sind für ein gelingendes und sinnerfülltes Leben.

Besonders wichtig auch: all dies hat Hildegard in einer Sprache gelehrt, die die Menschen ihrer Zeit verstanden haben. Ihr ist es gelungen, ihre große kosmologische Summe der Theologie in ganz unterschiedlichen literarischen Formen zu präsentieren: in theologischen Traktaten, in Dramen, Liedern und Gedichten, in Briefen und Predigten. Daran können sich alle ein Beispiel nehmen, die heute nach anderen Formen der Verkündigung und einer neuen Sprache suchen, um den Glauben überzeugend weiterzugeben.

Ein weiterer Aspekt, der alle inspirieren könnte, die sich heute für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche einsetzen: Hildegard war – trotz Krankheit und Schwäche – eine starke und selbstbewusste Frau. Sie war sich ihrer Würde bewusst. Sie wusste genau, was sie wollte und kommunizierte immer auf Augenhöhe mit den Menschen, auch mit den mächtigen Männern ihrer Zeit in Kirche und Gesellschaft. Schließlich war sie Äbtissin zweier Klöster, hatte also ein geistliches Leitungsamt inne, das auch rechtliche, politische und wirtschaftliche Zuständigkeiten mit einschloss. Sie vertrat ihren Standpunkt immer klar und unmissverständlich, predigte in Domen und auf öffentlichen Plätzen, schrieb Mahnbriefe, hielt Bußpredigten und scheute dabei auch nicht vor Konflikten mit dem Kaiser, mit Bischöfen und Klerus zurück. Dabei ging es ihr nie um sich selbst, um Macht, Einfluss und Prestige, sondern allein um die Wahrheit, um ein unerschrockenes, wenn es sein musste, auch kompromissloses, vor allem aber konkret gelebtes Zeugnis für das Evangelium. Insofern kann sie engagierten Frauen und Männern heute ein wichtiges Vorbild sein. Das Thema Frauenpriestertum war damals im 12. Jahrhundert für Hildegard kein Thema. Für sie brauchte es aber auch keines zu sein, denn sie schöpfte als Äbtissin wahrlich alle Möglichkeiten und Kompetenzen ihres Weiheamtes klug und weitsichtig aus.

Hildegard lebte, was sie lehrte. Damit war sie authentisch und überzeugend. Beseelt vom Feuer des Heiligen Geistes – eben eine Kirchenlehrerin par excellence.

 

Sr. Philippa Rath OSB ist Benediktinerin der Abtei St. Hildegard in Rüdesheim-Eibingen. Sie ist Theologin, Historikerin und Politikwissenschaftlerin und hat vor ihrem Klostereintritt in verschiedenen deutschen Medien gearbeitet. Im Kloster ist sie als Stiftungsvorstand verantwortlich für die Klosterstiftung Sankt Hildegard, für den Freundeskreis der Abtei sowie für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie befasst sich seit 25 Jahren mit Leben und Werk der heiligen Hildegard. In den Jahren 2011/12 war sie Postulatorin im Verfahren um die Heiligsprechung und Erhebung Hildegards von Bingen zur Kirchenlehrerin. Sie ist Delegierte des Synodalen Weges und Mitglied des Synodalforums „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“.