Venedig – entspannt, entschleunigt, einmalig!

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Die Touristen kommen wieder nach Venedig, aber viel weniger als in den letzten Jahren. Im Corona-Sommer sehnt sich die Stadt nach Besuchern, aber sucht auch neue Wege, jenseits des Massentourismus.

Die Besucherschlange vor dem Markusdom reicht schon wieder um die Ecke, bis zu den Fähr-Booten. Auf den ersten Blick sieht es fast aus wie immer. Aber nur einen Moment lang. Dann ist klar, die Menschen stehen nicht wie sonst dicht gedrängt, sondern mit Abstand. Venedig wirkt irgendwie aufgelockert, mitten im Hochsommer. Es fehlen die vielen Touristengruppen, die normalerweise den Markusplatz kreuzen. Und die Sicht ist frei auf den Dom und den Campanile, den alles überragenden Glockenturm. Endlich kann die Piazza in ihrer Schönheit wirken.

Der Markusdom ist auch im Corona-Sommer ein Besuchermagnet

Venedig sei geradezu “erschreckend leer”, findet Ralf Müller aus Wuppertal, er besucht die Stadt zum dritten Mal. Gerade kommt er vom Lido, “ebenfalls leer”. Dort hätten ihm die Restaurantbesitzer ihr Leid über fehlende Gäste geklagt. Andererseits genießt der passionierte Fotograf den “anderen” Blick auf die Sehenswürdigkeiten. “Man steht nicht einfach davor und knipst, sondern kann sich vertiefen”, schwärmt er.

Deutsch hört man in diesen Tagen überall, etwas Französisch und natürlich Italienisch. Die Touristen aus den USA und China dürfen nach wie vor nicht einreisen. Dafür kommen viele Italiener für einen Kurzurlaub in die Lagunenstadt. Sie hätten sogar noch weniger Touristen erwartet, sagen  vier Besucher aus Verona einhellig, die an einem der Seitenarme des Canale Grande ihren vorabendlichen Aperol Spritz genießen. Stimmt, richtig leer ist es nicht. Seit der Grenzöffnung Anfang Juni steigen die Touristenzahlen wieder. Doch kein Vergleich zu den letzten Jahren.

Venedig stand kurz vor dem Kollaps

Mit 12 Millionen Übernachtungen und nochmal doppelt so vielen Tagesbesuchern stand Venedig kurz vor dem Kollaps. Astronomische Mieten und mangelnder Wohnraumraum, auch durch die inflationäre Ausbreitung von Airbnb, haben dazu geführt, dass die Einwohnerzahl auf 50.000 geschrumpft ist. 10.000 Venezianer haben die Altstadt verlassen. Bürgerinitiativen wie “Generazione 90” kämpfen seit Jahren für Mietraum und einen verträglichen Tourismus. Anfang Juli wollte die Stadt eine Touristenabgabe einführen, die zwischen drei und acht Euro kosten sollte. Doch nun, wo die Besucher fehlen, die Kreuzfahrtschiffe ausbleiben, hat man diese Regelung auf nächstes Jahr verschoben.

Ruhige Zeiten für den Canal Grande

“So eine Situation hatten wir noch nie”, sagt Fabio Pilla, der seit vierzig Jahren als Gondoliere arbeitet. “Wir sind doppelt gestraft in Venedig. Erst die große Flut im Novemberund dann der Lockdown. Ich komme auf zehn Prozent von dem, was ich sonst verdiene.” Viele Gondelstationen würden gar nicht mehr arbeiten. Den Job wechseln, nein, das käme nicht infrage. Und was könne er schon machen in einer Stadt, die hauptsächlich vom Tourismus abhängt.

Venedig ist eine lebendige Stadt

Das sei genau das Problem, meint Giovanni Leone. Der Architekt ist Vorsitzender der Initiative “DOVE”. Ein Zusammenschluss von Geschäftsleuten, Handwerksbetrieben und Einwohnern von Dorsoduro, einem Viertel nahe der Universität. “Venedig ist eine lebendige Stadt”, doch das sei vielen, selbst den Einheimischen kaum noch bewusst, angesichts der Touristenmassen in den letzten Jahren.

“Während des Lockdowns, wo wir uns nur in der unmittelbaren Nachbarschaft bewegt haben, wurde plötzlich deutlich, dass wir hier eigentlich alles haben, auch ohne Touristen”, erzählt er, verschmitzt lächelnd. “Wir haben ein extrem gut ausgebautes schnelles Internet, warum motivieren wir nicht mehr junge Leute, nicht nur als Touristen zu kommen, sondern länger hier zu bleiben, in der digitalen comunity zu arbeiten.” Mit der Inititative “DOVE” will er nicht nur den Zusammenhalt im Viertel stärken, es geht auch um einen Gegenentwurf zum Massentourismus.

Viel Platz in den Cafés an der Piazza San Marco

Slow-Tourismus als Alternative

“Venedig ist keine Theaterkulisse. Man sollte hierherkommen und sich einlassen, Menschen treffen und selbst erfahren, wie das Leben hier ist”, sagt Luisella Romero, eine charmante Venezianerin mit flottem Hütchen. Sie arbeitet als Stadtführerin und unterstützt “DOVE”. Dosoduro ist ihr Viertel, hier hat sie studiert und kennt jede Menge Leute, auch viele Kunsthandwerker, die kleine Läden und Arbeitsstätten haben. “Wenn ich die Touristen zu ihnen bringe, dann sind sie immer begeistert. Sie können mit den Einheimischen reden, die eine oder andere Technik, wie Glasbearbeitung ausprobieren.” 

Luisella Romero sieht das als eine Art “Slow Tourismus”, der beiden Seiten zugute kommt und das alteingessenene Kunsthandwerk aufwertet. Während des Lockdowns hat sie digitale Touren ausgearbeitet. Die waren so erfolgreich, dass sie diese weiterführt. “Im Moment geht sowieso alles etwas langsamer”, sagt sie, aber “dafür können die Touristen die Stadt anders entdecken”. Digital oder real.

Zurück zum Status Quo, mit Massen von Besuchern, will in diesem Viertel keiner. Selbst der Verkäufer aus Bangladesch, der in einem der “klassischen” Souvenirläden arbeitet, hat die Nase voll. Klar, er verkaufe sehr viel weniger, aber die Kreuzfahrttouristen, speziell die Chinesen, kämen rein, fotografierten und würden wieder gehen. Darauf könne er verzichten.

Die Rialtobrücke im Sommer 2020

Auf der Rialto-Brücke, einer der “Must-Go“-Orte in Venedig, ist die Stimmung anders. Normalerweise gibt es dort kein Durchkommen auf den Treppen der Brücke, jetzt kann man bequem hochlaufen und von beiden Seiten einen Blick auf den Canale Grande werfen. Doch einige Geschäfte auf der Brücke sind zu. Er wisse nicht, ob er das Jahr übersteht, sagt der Besitzer eines kleinen, aber qualitätvollen Schuhgeschäfts dort.

Auch bei den Hoteliers ist die Situation kritisch. Andrea Meanna führt ein kleines Hotel in der Nähe der Fährstation St.Toma. Eigentlich immer gut gebucht, seit der Öffnung Mitte Juli ist er mit den Preisen runtergegangen. “Wir verdienen 15 Prozent im Vergleich zum letzten Jahr”, sagt er. Immerhin habe er noch ein Weingut und verkaufe Prosecco, aber das könne die Defizite nicht auffangen.

Wie es weitergehen soll? Nicht wie vorher, da ist er sich sicher. “Wir brauchen keine Kreuzfahrtschiffe, die bringen nichts, machen nur die Lagune kaputt.” Von einer Art “Touristeneintritt” hält er auch nichts. Venedig solle allen offen stehen, auch denen, die nicht viel Geld haben. Das größte Problem sei, dass ganz Venedig über Airbnb zu einer Art Hotel geworden sei. Das müsse man dringend ändern.

Die Rialtobrücke im Sommer 2019

Venedig erfindet sich neu

Trotzdem sehnen sich alle wieder nach Touristen in Venedig, auch die Kulturinstitutionen. Die Museen haben immerhin wieder geöffnet, die Architektur-und Kunstbiennalen sind aufs nächste und übernächste Jahr verschoben worden. In den Giardini, dem Zentrum der Kunstbiennale, gibt es jetzt eine Ausstellung zur Geschichte aller Biennale-Sektionen, Kunst, Architektur, Tanz, Film. Und jeden Tag Führungen zu Geschichte und Architektur der Länderpavillons. Die sind gut gebucht. Solch einen freien Blick, ohne den Kunstrummel, gibt es wohl nicht noch einmal. Venedig ist gerade dabei, sich neu zu erfinden, so scheint es. Zwischen Massentourismus und Slow-Down. Klar ist, Venedig dieses Jahr, ist einmalig.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Utrecht statt Amsterdam

    Amsterdam (rechts), die Hauptstadt der Niederlande, wird wie Venedig von Besuchern überschwemmt. Das geht so weit, dass die Stadt Verbote, Vorschriften und Gebühren für Touristen eingeführt hat. In Utrecht (links), nicht weit entfernt, ist es deutlich ruhiger, dabei bietet die Stadt fast alles, was Amsterdam so beliebt macht: Grachten, eine historische Altstadt und niederländisches Flair.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Chioggia statt Venedig

    Venedig (rechts) ist schön, versinkt aber in Touristenmassen. Jährlich kommen fast 30 Millionen Besucher in die italienische Lagunenstadt. Wer verstopfte Straßen und lange Warteschlangen vermeiden will, besucht besser Chioggia (links). Die kleine Fischerstadt bietet wie Venedig italienische Romantik am Wasser mit Brücken, Kanälen, engen Gassen und farbenfrohen Häusern – nur ohne Menschenmengen.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Sevilla statt Barcelona

    Mit 27 Millionen Besuchern jährlich gehört Barcelona (rechts) zu Europas Top-Reisezielen. Besonders die Flaniermeile “Rambla” ist vom Massentourismus betroffen. Dann lieber in Sevilla (links) den Palast der Könige besichtigen und sich abends von einer Flamenco-Show mitreißen lassen. Sevilla ist auch nicht gerade ruhig, aber hier kann man noch ins echte andalusische Leben eintauchen.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Split statt Dubrovnik

    Dubrovnik (rechts) in Kroatien zieht täglich tausende Touristen an, viele kommen mit großen Kreuzfahrtschiffen. Vor allem seit dem Erfolg der TV-Serie “Game of Thrones”, denn Dubrovnik war einer der Drehorte. Wer den Trubel meiden will, ist in Split (links) besser aufgehoben. Auch diese Stadt liegt inmitten einer schönen Natur, bietet Badestrände und historische Bauten.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Regensburg statt Prag

    Verstopfte Straßen und lange Schlangen sind im tschechischen Prag (rechts) Alltag. Das ist im bayerischen Regensburg (links) noch nicht ganz so schlimm, obwohl die Stadt architektonisch ähnlich und Ziel von Donau-Kreuzfahrtschiffen ist. Auch hier gibt es einen Dom, eine Altstadt mit UNESCO-Siegel und eine berühmte Brücke. Die in Regensburg diente sogar als Vorbild für die Prager Karlsbrücke.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Leeds statt London

    In der Londoner Innenstadt (rechts) ist es zum Teil so voll, dass man sich seinen Weg durch die Massen pflügen muss. Warum nicht mal ein anderes Reiseziel auf der Insel besuchen? Zum Beispiel Leeds im Norden Englands (links). Einst war die Stadt ein Zentrum der Industrie, heute hat sie eine blühende Kunstszene, ein pulsierendes Nachtleben und viele Einkaufsmöglichkeiten.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Porto statt Lissabon

    6 Millionen Besucher auf 500.000 Einwohner: Auch Lissabon (rechts) leidet unter seiner Beliebtheit. Eine Alternative ist Porto (links), Portugals zweitgrößte Stadt. Sie ist vor allem für ihren Exportschlager, den Portwein, bekannt. Aber es gibt noch mehr: die Altstadt zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe. Barocke Kirchen, enge Gassen und hohe Brücken über dem Fluss Douro prägen das Stadtbild.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Bologna statt Rom

    Ganz kann Bologna im Norden Italiens (links) mit der Hauptstadt Rom (rechts) nicht mithalten, aber die Stadt wird unterschätzt. Sie ist voller mittelalterlicher Gebäude, besitzt die älteste Universität Europas und zahlreiche Museen. Zudem viele Cafés und Restaurants, die ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die Stadt den Beinamen “La Grassa” (die Fette) trägt. Hier isst man gern und reichlich.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Graz statt Wien

    16,5 Millionen Gästeübernachtungen zählte Wien in Österreich (rechts) im Jahr 2018. Wem das zu viel ist, kann als Alternative Graz (links) besuchen. Die Altstadt gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Top-Attraktionen sind der Schlossberg, das Kunsthaus und das Landeszeughaus. Kaffeehauskultur wie in Wien gibt es hier natürlich auch.


  • Abseits der Massen: Zehn alternative Reisetipps

    Menorca statt Mallorca

    Mallorca (rechts) ächzt unter den Touristenmassen. Wer es ruhiger mag, sollte Menorca (links) ausprobieren, Mallorcas “kleine” Schwester. Die Insel ist kein Party-Hotspot, dafür aber ein Naturparadies. Es gibt acht Naturschutzgebiete und 200 Felsenstrände, die schwer erreichbar sind. Menorca hat somit kein Potential für Massentourismus, ist dafür aber ein ruhiges Urlaubsziel inmitten der Natur.

    Autorin/Autor: Elisabeth Yorck von Wartenburg