Klimaschutz-Proteste trotz Corona

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Sie sehen sich als Umweltschutz-Rebellen. Provokante Aktionen sind das Markenzeichen von Extinction Rebellion. Jetzt stehen neue tagelange Aktionen der Bewegung bevor – obwohl die Pandemie Deutschland noch in Atem hält.

Extinction Rebellion – notwendiger Klimaprotest oder Ökoterrorismus? (Archivbild)

Radikaler, provokanter, spektakulärer: Wenn es um den Klimaschutz geht, testet Extinction Rebellion (XR) immer wieder gezielt Grenzen aus – des guten Geschmacks und manchmal auch des Gesetzes. In Großstädten legten sie den Verkehr lahm, färbten den Züricher Limmat-Fluss grün ein, in dem sich dann Aktivisten wie Leichname treiben ließen oder stürmten halbnackt das britische Parlament. Die Schlagzeilen waren den Umweltschutz-Rebellen stets sicher. Aber auch hunderte Festnahmen wie bei ihren weltweiten Protesten im Oktober vergangenen Jahres.

Eine Blockade gegen die Blockierer

Nun stehen wieder “Aktionen des zivilen Ungehorsams” bevor, wie sie Extinction Rebellion nennt. Für den Zeitraum vom 12. bis 21. Juni hat die Bewegung unter dem Hashtag #WeiterSoWarGestern Aktionen für ganz Deutschland vorbereitet.

Haut zeigen für den Umweltschutz: XR-Aktivisten im britischen Parlament (April 2019)

Sie richten sich gegen die Bundesregierung, Ministerien, Lobbybüros und Unternehmen, die aus Sicht der Aktivisten den Umweltschutz ausbremsen und eine klimafeindliche Wirtschaftspolitik verantworten. “Wir blockieren die Blockierer”, kündigt die Sprecherin von XR-Deutschland, Annemarie Botzki, im Gespräch mit der DW an.

Mit Blick auf die friedlich demonstrierende Fridays-For-Future-Schülerbewegung betont Brotzki: “Wir steuern auf Klima-Kippunkte zu, also Entwicklungen, die man dann nicht mehr rückgängig machen kann. Da reichen die Demos auch nicht mehr aus, die jetzt seit knapp anderthalb Jahren laufen.”

XR-Aktivistin Annemarie Botzki

2020 sei das entscheidende Jahr, in dem die Politik endlich überlebensnotwendige Entscheidungen treffen müsse, um die drohende Klimakatastrophe und den Kollaps der Ökosysteme aufzuhalten. Die Corona-Krise sieht die Klima-Extremisten als zusätzliche Motivation, um sich von der “alten Geschäftsordnung” abzuwenden.

Neue Strategie wegen Infektionsrisiko

“Jetzt gibt es die historische Chance, diese ökologische Wende, die wir dringend brauchen, einzuleiten. Es werden die Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt. Jetzt ist genau der Zeitpunkt, wo wir mitbestimmen sollten”, erklärt Botzki.

Ein Modellhaus, das in der Londoner Themse absäuft – damit machten Extinction Rebellion 2019 auf die Überschwemmungen durch den steigenden Meeresspiegel aufmerksam

Wegen des Infektionsrisikos durch die Pandemie müssen die Klima-Extremisten allerdings neue Wege gehen. Es soll keine zentrale Kundgebung ihrer “Rebellionswelle” geben, stattdessen “dezentrale und digitale Aktionen” unter anderem in Berlin, Dresden, Hamburg, Köln sowie Essen und im Internet.

Erwartungsgemäß deckt Extinction Rebellion (deutsch: Rebellion gegen das Aussterben) die Karten ihrer konkreten Vorhaben wegen des Überraschungseffektes nicht ganz auf. In Berlin will die Bewegung mit einer Klima-Sonderausstellung Lösungsansätze für den Umweltschutz präsentieren. “Aber es gibt viele, auch nicht angemeldete Veranstaltungen des zivilen Ungehorsams, die ich nicht vorstellen kann”, sagt XR-Sprecherin Botzki. Protest soll auch das Internet aufrütteln. Vorgesehen sind Social-Media-Kampagnen und Faktenchecks von PR-Maßnahmen, mit denen sich Firmen fälschlicherweise ein “grünes Image” verpassen wollen – dem sogenannten Greenwashing.

Zunehmende Kritik an provokanten Aktionen

“Energiefirmen zum Beispiel geben Millionen aus, um ihre Wirtschaftsmodelle grün zu waschen. Wir wollen dagegenhalten und uns den Raum im Internet zurückerobern”, kündigt Botzki an. Doch der Gegenwind nimmt zu. Wegen des Radau-Images von Extinction Rebellion sehen sich ihre Unterstützer zunehmend mit der Frage konfrontiert, wie weit Protest gehen darf.

In Den Haag führen Polizisten einen Demonstranten vor der Shell-Hauptverwaltung ab

Auch weil die friedliche Schülerbewegung Fridays for Future bisher mehr Menschen mobilisieren konnte als die anarchistisch anmutende XR-Erwachsenengeneration.

Zwar lehnt Extinction Rebellion Gewalt in seinen Stellungnahmen kategorisch ab und spricht von ungefährlichen Aktionen. Doch gilt das unter anderem auch für die umstrittenen Straßenblockaden in Großstädten? Mindestens Zweifel sind angebracht, finden viele Kritiker, die der Bewegung Ökoterrorismus vorwerfen. Extinction Rebellion in Berlin wird inzwischen vom dortigen Verfassungsschutz beobachtet.

Roger Hallam sorgte für Negativ-Schlagzeilen

Zusätzlich unter Druck geraten ist die Organisation wegen ihres Mitbegründers Roger Hallam. Der Brite bezeichnete den Holocaust im November 2019 als nur einen weiteren “historischen Scheiß”. Genozide habe es schließlich in den vergangenen 500 Jahren immer wieder gegeben.

Verantwortung als reichen Industrieland

Trotz des Entrüstungssturms nach dieser rechtspopulistischen einzuschätzenden Aussage bleibt Extinction Rebellion offenbar auf Expansionskurs. Die 2018 in Großbritannien gegründete Bewegung zählt laut eigenen Angaben etwa 140 Ortsgruppen in Deutschland mit rund 20.000 Mitgliedern. Weltweit soll XR in 73 Ländern auf sechs Kontinenten aktiv und auf mehr als 200.000 Aktivisten angewachsen sein. Zulauf gibt es vor allem im globalen Süden und in Indien.

Proteste vor der Berliner Siegessäule im vergangenen Jahr

“Wir sind in gemeinsamen Gruppen online und zum Beispiel über Messenger-Dienste vernetzt”, erklärt Sprecherin Annemarie Botzki. Man unterstütze sich gegenseitig. In Deutschland wolle man auch Botschaften von Aktivisten zeigen, die in ihren Heimatländern nur eingeschränkt protestieren können. “Wir versuchen, unsere Privilegien zu nutzen. Wir können hier frei protestieren und haben als reiches Industrieland eine Verantwortung dafür.” In den kommenden Tagen muss Extinction Rebellion allerdings wohl auch beweisen, dass sie die eigene Verantwortung für friedliche Aktionen ernst nimmt. Und dass sie den Protestbogen nicht überspannt.