Deutschlands “anhaltendes Problem mit rassistischer Diskriminierung”

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Weltweit gehen Menschen gegen Rassismus auf die Straße – auch in Deutschland. Zu Recht, wie der Jahresbericht der Antidiskriminierungsstelle zeigt. Er warnt vor fatalen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

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Mehr Beschwerden wegen Rassismus

Seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd vor zwei Wochen rollt eine Welle des Protests durch die USA. Der fast neunminütige Todeskampf des Afro-Amerikaners durch brutale Polizeigewalt schockierte auch viele Deutsche. Erst am vergangenen Wochenende demonstrierten zehntausende von ihnen trotz der Corona-Pandemie in mehreren Städten wie Berlin, München und Köln gegen Rassismus. 

Ebenfalls prangerten sie unter großer medialer Aufmerksamkeit die Benachteiligung von Menschen wegen ihrer ethnischen Herkunft hierzulande an. Alltagsrassismus, fremdenfeindliche Ausschreitungen und rechtsextremistische Anschläge wie durch den Nationalsozialistischen Untergrund NSU prägen auch in Deutschland immer wieder das Bild der Gesellschaft. 

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Rassismus in Deutschland

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Mit dem Afrozensus endlich die Wirklichkeit erfassen

Fast 1200 Beschwerdefälle wegen Rassismus

Neue Zahlen stützen diese Kritik und bestätigen einen düsteren Trend: Die rassistische Diskriminierung hat zugenommen – und zwar deutlich. Nach dem an diesem Dienstag vorgestellten Jahresbericht 2019 der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ADS stieg die Zahl der in Deutschland gemeldeten Fälle um knapp zehn Prozent auf 1176. Mit 33 Prozent machen sie den größten Teil aller Beratungsfragen bei der Behörde aus. Zum wiederholten Mal! 2016 lag ihr Anteil bei nur 25 Prozent. Seit 2015 (545 gemeldete Fälle) hat sich ihre Zahl sogar mehr als verdoppelt.

Die 2006 gegründete Antidiskriminierungsstelle des Bundes berät Menschen, die aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Religion, Weltanschauung, sexuellen Identität, des Alters, einer Behinderung oder ihres Geschlechts benachteiligt worden sind. 

Deutschland habe ein “anhaltendes Problem mit rassistischer Diskriminierung und unterstützt Betroffene nicht konsequent genug bei der Rechtsdurchsetzung”, sagte der kommissarische Leiter der unabhängigen Behörde, Bernhard Franke, bei der Vorstellung des Berichts.

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Das Gefühl, mit einer Ungerechtigkeit allein gelassen zu werden, habe “auf Dauer fatale Folgen, die auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Diskriminierung zermürbt”, warnte Franke. Entsprechend intensiv behandelt der ADS-Jahresbericht das Thema Rassismus. 

Tiefe Spuren des Hasses in der Gesellschaft

In dessen Vorwort schreibt Franke, 2019 sei ein Jahr gewesen, in dem “Hass und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit tiefe und schmerzliche Spuren hinterlassen haben” – vom rechtsextremistischen Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, der sich für Flüchtlinge eingesetzt hatte, bis zum Terroranschlag auf die Synagoge von Halle, “aber eben auch in vielen kleinen Vorfällen, in ganz alltäglicher Diskriminierung.”

Was das konkret bedeutet, verdeutlichen Schilderungen Betroffener, die in dem Bericht anonym zitiert werden. Sie erlebten Diskriminierungen in allen alltäglichen Lebensbereichen. Eine Auswahl:

  • “Eine Kundin hat kürzlich durch den Laden gerufen ‚Wo ist mein N*ger? Ich habe es am liebsten, wenn er mir den Kopf massiert!‘.”
  • “Ein Kind hat in der Schule meinen Bruder beleidigt, weil er eine dunkle Hautfarbe hat. Dann hat er ihn geschlagen. Die Lehrerin hat alles gesehen, aber nichts gemacht.”
  • “Zwei Kollegen aus einer anderen Abteilung haben mich lachend angesprochen und gefragt, ob ich in dem Unternehmen arbeite, um Kaffee zu kochen. Ich bin Bauingenieurin aus Syrien und als Statikerin angestellt. Als ich ihnen das gesagt habe, haben sie noch lauter gelacht und gefragt, ob ich nach deutschen oder syrischen Standards arbeite.”

Spitze des Eisbergs rassistischer Einstellungen

In dem Jahresbericht heißt es weiter, viele Betroffene hätten das Gefühl, dass sich die Gesamtsituation seit Jahren nicht verbessere, dass Anschläge und Morde die Gesellschaft zwar aufrüttelten, “die Sorgen, Ängste und Ausgrenzungserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund letztlich aber doch nicht ernst genommen werden.”

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Gewalt, Hass und Hetze seien nur die Spitze des Eisbergs rassistischer Einstellungen und Ressentiments, die sich bereits viel früher durch alltägliche Ausgrenzungen manifestierten: “Mit der Wohnungsanzeige, in der ‘keine Ausländer’ gewollt sind, mit der Diskothek, in der ‘Leute wie Du’ angeblich immer Ärger machen, oder mit Vorgesetzten, die finden, dass der rassistische Witz des Kollegen ‘bestimmt nicht so gemeint’ war.”

2019 hätte jede dritte Person mit Migrationshintergrund, die in den letzten zehn Jahren auf Wohnungssuche war, berichtet, dabei Diskriminierung erlebt zu haben. Gleichzeitig hätten 41 Prozent aller Befragten in einer repräsentativen Stichprobe angegeben, sie hätten sehr große oder große Bedenken, eine Wohnung an eine eingewanderte Person zu vermieten.

Anonyme Bewerbungen für Wohnung und Arbeit

Zwar verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz AGG diese Ungleichbehandlungen im Grundsatz, der rechtliche Schutz vor rassistischer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt ist aber – so resümiert die Antidiskriminierungsstelle – “durch einige Ausnahmeregelungen gekennzeichnet”. Ein von der Behörde beauftragtes Rechtsgutachten stellt fest, dass die EU-Antirassismusrichtlinie in Deutschland nur unzureichend umgesetzt wurde.

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Die Antidiskriminierungsstelle forderte den Gesetzgeber in Bund und Ländern auf, die Rechtsstellung und die Hilfsangebote für Betroffene deutlich zu verbessern. Auch der Schutz bei staatlichem Handeln müsse eindeutiger gefasst und mit klaren Rechtsfolgen versehen werden. Die Politik ist sich der Problemlage offenbar bewusst. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sagte der DW, alle Aspekte von Fremdenfeindlichekit und Rassismus würden in einem speziellen Kabinettsausschuss debattiert. Dabei gehe es auch um die Möglichkeit, “sich anonym um Wohnungen oder Arbeitsstellen zu bewerben.” 

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sieht in dem ersten Landesantidiskriminierungsgesetz, dass Berlin vor kurzem verabschiedet hatte, einen wichtigen Schritt. Das Gesetz ermöglicht Betroffenen unter anderem bei Diskriminierung durch Polizisten oder im Bildungsbereich, Beschwerde einzureichen, sowie Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche zu erheben.

Benachteiligungen wegen des Geschlechts

Insgesamt war die Behörde im vergangenen Jahr in 3580 Fällen aktiv. Die Gesamtzahl der Beratungsanfragen stieg im Vergleich zum Vorjahr um 3,6 Prozent. Neben der Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft ging es bei 29 Prozent aller Beschwerden um Benachteiligungen wegen des Geschlechts.

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Es folgen Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung (26 Prozent), des Alters (12 Prozent), der Religion (7 Prozent) sowie der sexuellen Identität (4 Prozent) und der Weltanschauung (2 Prozent). Der größte Anteil der berichteten Diskriminierungen geschieht nach dem ADS-Jahresbericht im Beruf oder bei der Arbeitssuche. Am zweithäufigsten geht es um Diskriminierung bei Alltagsgeschäften wie der Wohnungssuche, beim Einkauf, in der Gastronomie oder bei Versicherungs- und Bankgeschäften.