Ein Jahr danach: Christchurch verstehen

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Vor einem Jahr eröffnete ein Rechtsextremer in Neuseeland das Feuer auf Muslime in zwei Moscheen. Die Tat hat tiefe Spuren hinterlassen. Das Land muss sie noch verarbeiten, schreibt Jehan Casinader in Christchurch.

“Wie konnte das geschehen?” Diese Frage quälte am 15. März 2019 viele Neuseeländer. Es war ein Freitag, der Wochentag, an dem die Moscheen auf der ganzen Welt am vollsten sind, auch in Christchurch.

Ein schwer bewaffneter Rechtsextremer betrat an diesem Tag nacheinander zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt – um Menschen niederzuschießen, die dort gerade beteten. Viele von ihnen waren in die Andacht vertieft, hatten die Augen geschlossen und der Tür, durch die der Schütze eindrang, den Rücken zugekehrt. Seine Schüsse töteten 51 Menschen, Dutzende wurden verletzt.

An diesem Tag starb die Unschuld des weltoffenen Landes – der Schütze traf auch ins Mark der neuseeländischen Identität. Der ozeanische Inselstaat, berühmt vor allem für Rugby, Wolle, Milch und Hobbits, war schon immer stolz auf seine Unabhängigkeit.

Bisher waren die vier Millionen Neuseeländer oft weit, weit weg von den großen Bedrohungen dieser Welt. Das gilt auch für die Welle nationalistischer, spalterischer und populistischer Ideologien, die vor allem über Europa und Amerika hinwegrollt.

Die Unschuld starb: Trauernde nach dem Terroranschlag

Doch der Terroranschlag von Christchurch zeigte, das in Zeiten globaler digitaler Vernetzung auch Neuseeland kein sicherer Hafen ist, den Hass und Extremismus nicht erreichen. Der mutmaßliche Täter, dessen Verurteilung noch bevorsteht, hat seine rassistischen Einstellungen in einem Text niedergeschrieben, den er vor der Tat online veröffentlichte.

Der Anschlag hat Versagen aufgedeckt

In den zwölf Monaten, die seitdem vergangen sind, musste Neuseeland sich mit den Strukturen, gesellschaftlichen Normen und Einstellungen beschäftigen, die diesen Anschlag erst möglich gemacht hatten. Diese Zeit der Selbstreflexion war unbequem und nicht unumstritten – aber ebenso erkenntnisreich.

Schon seit Jahren hatten die Leiter muslimischer Einrichtungen gegenüber den Behörden über wachsende Diskriminierung und Bedrohungen ihrer Gemeinden geklagt, insbesondere aus dem neurechten Spektrum. 2006 beispielsweise stattete eine Gruppe Neonazis der Al-Noor-Moschee in Christchurch einen ungebetenen Besuch ab, deponierte eine Kiste mit Schweineköpfen und rief: “Weiße Macht … Raus mit den A***. Her mit dem Schlachtmesser.”

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Christchurch: Trauer um die Opfer

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Neuseeland trauert um die Opfer

Sprecher muslimischer Gemeinden baten staatliche Stellen schon damals um besseren Schutz. Der Ruf sei jedoch ungehört verhallt, sagen sie. Stattdessen suchten die Staatsschützer hauptsächlich in den Reihen der Muslime nach potentiellen Terroristen.

Während Moscheen also unter Beobachtung standen, blieben die dunklen Ecken der großen Social-Media-Plattformen den Behörden mutmaßlich verborgen. Und auch deren Betreiber haben nicht genau genug hingesehen: Der Terroranschlag von Christchurch machte deutlich, dass sie längst nicht immer die aufwieglerischen, gefährlichen und oft genug auch kriminellen Posts erkennen und anzeigen, die auf ihren Webseiten landen.

Diese Konzerne haben Plattformen geschaffen, auf denen Extremisten zueinanderfinden und Informationen miteinander teilen konnten. Mehr noch: Im digitalen Raum können sie einander in ihren kruden Ideologien bestärken und schließlich zu Gewalttaten im analogen Raum ermutigen. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern reagierte darauf mit dem “Aufruf von Christchurch”, einer Abmachung zwischen der Regierung und Online-Dienstleistern, um gemeinsam Hassbotschaften zu bekämpfen.

Nahbar und empathisch: Premierministerin Jacinda Ardern nimmt ein Mitglied der Moscheegemeinde in den Arm

Ardern hat in den Tagen nach dem Anschlag Führungsstärke bewiesen und internationale Anerkennung erhalten, auch für ihren empathischen, nahbaren Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen. Ein Foto der heute 39-Jährigen, das sie im Hijab mit Angehörigen zeigt, ging um die Welt.

Offener und verdeckter Rassismus

Vor allem gelang es Jacinda Ardern, die richtigen Worte zu finden. “Sie sind wir”, sagte die Premierministerin über die Einwanderer, denen der rassistische Anschlag galt. Sie hielt eine Ansprache der Integration, der Toleranz und des Miteinanders. Die Opfer seien keine Besucher in Neuseeland, sagte Ardern, sondern Kiwis. “Sie haben in unserem Boden Wurzeln geschlagen und sie verdienen es, geschützt zu werden.”

Ich selbst bin sri-lankischer Neuseeländer in zweiter Generation, und diese Aussage tat mir gut. Während des vergangenen Jahres habe ich aber immer wieder beobachtet, wie tief Spannungen über Hautfarbe und Herkunft in der neuseeländischen Gesellschaft verwurzelt sind. Rassismus existiert hier in vielen Formen, offen und verdeckt, bewusst und unbewusst. Wir, die wir ethnischen Minderheiten angehören, haben Erfahrung damit.

Eigene Erfahrung: Der neuseeländische Journalist Jehan Casinader hat über den Anschlag berichtet

Neuseeland war früher eine britische Kolonie und hat eine unrühmliche Geschichte kultureller Unterdrückung hinter sich. Sie begann mit dem Umgang der Krone mit den einheimischen Maori. 2020 ist Neuseeland eine multikulturelle Nation, aber weite Teile davon sind auf Traditionen und Werten aufgebaut, die oft wenig Raum für andere Glaubensrichtungen, Ideen und Lebensentwürfe lassen. Für jene, die neu im Land ankommen, kann das Leben im vermeintlichen Paradies einsam sein.

Herausforderungen für alle

Ein Jahr nach dem Terroranschlag von Christchurch müssen die mächtigen Institutionen im Land sich weiter fragen, wie viel Verantwortung sie dafür tragen, Extremismus und Hassreden zu unterbinden.

Die eigentliche Frage liegt aber sehr viel näher am Alltag jedes Neuseeländers und jeder Neuseeländerin: Wie können wir Vorurteile in unseren Schulen, Wohnungen, Arbeitsstätten und Gemeinschaften bekämpfen? Dieser Herausforderung müssen sich nicht nur der Staat und die Betreiber von Internetplattformen stellen – sondern jeder einzelne Bürger.

Am 15. März 2019 fragten wir: “Wie konnte das geschehen?”

Ein Jahr später fragen wir: “Wie können wir sicherstellen, dass es niemals wieder passiert?”

Jehan Casinader ist ein neuseeländischer Fernsehjournalist und hat über den Terroranschlag in Christchurch und seine Nachwirkungen berichtet.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Ein Opfer in Gedenken an den Vater

    Auf seiner kleinen Farm am Rande von Christchurch hat Omar Nabi (links) ein kleines Loch gegraben und ein Messer geschärft: Gleich wird er das Schaf schlachten – in Gedenken an seinen Vater Haji Daoud, der beim Anschlag durch einen Rechtsterroristen in der Al-Noor-Moschee getötet wurde.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Eine Moschee bauen

    Omar Nabis Vater Haji Daoud hat verrostete Autos gesammelt. Daoud hatte immer gehofft, auf dem Auto-Gelände eine kleine Moschee bauen zu können. Nun will sein Sohn den Plan verwirklichen. “Das bedeutet mir vie!”, sagt der 43-Jährige.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Aus dem Leben gerissen

    Hussein Moustafas Sohn Mohammed hält die Uhr seines Vaters in den Händen, die dieser zum Zeitpunkt des Anschlags trug. Mohammed hatte sie ihm einst geschenkt. Er war kurz vor dem Tod seines Vaters von einem Job aus Saudi-Arabien zurückgekehrt. Nun, sagt er, bete er in der gleichen Ecke, wie sein Vater. Er hat sich mehrfach erschrocken, weil er glaubte, seinen Vater gesehen zu haben.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Bilder zur Erinnerung

    Wenige Wochen bevor Hussein Moustafa beim Anschlag ums Leben kam, hatte er dieses Fotoalbum zusammengestellt. Seit seinem Tod blättert seine Frau ständig darin, der Schmerz ist groß. Ihr Haus ist nur wenige Autominuten von der Al-Noor-Moschee entfernt. Dort verbringt sie nun die meiste Zeit.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Ort des Terroranschlags

    Die Al-Noor-Moschee in Christchurch ist eine der zwei Moscheen, die am 15. März Ziel des Terroranschlags wurde. Während des Freitagsgebets hatte der Attentäter auf betende Muslime geschossen. Zu der Tat bekannte sich ein australischer Rechtsterrorist. Insgesamt starben 50 Menschen, ebenso viele wurden verletzt. Die meisten Toten gab es in der Al-Noor-Moschee


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Schutz im Schauplatz des Schreckens

    Einige der Moschee-Besucher konnten sich retten, weil sie ein Versteck in der Moschee gefunden haben. So auch ein dreijähriger Junge, der in eine Öffnung in der Kanzel kroch, wie Israfil Hossain, ein Muezzin aus Bangladesch, zeigt.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Ein Zwischenstopp…

    … in Christchurch wurde für den 59-jährigen Mark Rangi (rechts) zum Albtraum. Der Neuseeländer wollte vor seiner Rückreise nach Sydney Verwandte in der Stadt besuchen und erstmals in der Al-Noor-Moschee beten. Stattdessen aber musste er dort um sein Leben rennen. Er wurde am Bein verwundet, kann aber mittlerweile wieder gut stehen und gehen.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Sein Bild ging um die Welt: Farid Ahmed

    Farid Ahmed (im Rollstuhl beim Gebet mit Nachbarn) überlebte das Attentat. Seine Frau Husna wurde getötet. Als die ersten Schüsse fielen, habe sie viele Frauen und Kinder aus der Moschee geführt und kam zurück, um nach ihm zu sehen, sagt Ahmed – dabei wurde auf sie geschossen. Ende März sorgte Farid Ahmed für weltweites Aufsehen, als er bekundete, dem Rechtsterroristen verziehen zu haben.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Sardar Faisal hat Albträume

    Sardar Faisal (zweiter von links) ist dafür bekannt, stets pünktlich zur Moschee zu kommen. Am Tag des Anschlags aber verspätete er sich und war noch im Vorraum, um sich für das Gebet zu waschen, als der Attentäter das Feuer auf die Betenden eröffnete. Was er dann hörte und sah, verfolge ihn seither bis in den Schlaf. Es sei wie die Tonspur eines Videospiels in Endlosschleife.


  • Leben in Christchurch – nach und mit dem Massaker

    Hazem Mohammeds Wiedergeburt

    Verwundet und umgeben von reglosen Körpern der Mitbetenden lag Hazem Mohammed an jenem Morgen auf dem Boden der Al-Noor-Moschee. Als der Schütze über ihm stand, stellte er sich tot. Nun weine er um die verlorenen Freunde, sagt der Mann, der vor über 40 Jahren aus Bagdad nach Neuseeland eingewandert war. “Ich wurde am 15. März 2019 wiedergeboren”, sagt er.

    Autorin/Autor: Sven Töniges (mit Reuters / Fotos: Edgar Su )