Die Flucht vor dem Coronavirus

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Wie eine Chinesin den Ausbruch des Coronavirus in Wuhan erlebte und vor der Abriegelung aus der zentralchinesischen Stadt fliehen konnte. Nun sitzt sie zu Hause fest und kann niemandem erzählen, warum.

Seit zehn Tagen sitzt Claire zu Hause. Hinter ihr liegt eine überstürzte Flucht aus Wuhan, dem Epizentrum der Coronainfektion. Dort hatte sie mit ihrem Mann das chinesische Neujahrsfest im Kreise der Familie feiern wollen, als die Nachricht kam, dass die chinesische Provinzhauptstadt abgeriegelt würde, um die Infektionskette zu unterbrechen. Claire und ihr Mann entkamen nur wenige Minuten bevor die Sperren eingerichtet worden waren.

Seitdem stehen sie in ihrer Wohnung unter Quarantäne. “Zunächst war es unsere eigene Entscheidung, zu Hause zu bleiben”, berichtet sie im Videochat mit der DW. Später habe sich aber die allgegenwärtige Partei eingemischt. “Wir bekamen Anrufe vom Nachbarschaftskomitee und der örtlichen Polizeiwache, die uns drängten, zu Hause zu bleiben.” Sie und ihr Mann müssten täglich ihre Körpertemperatur messen und den Behörden melden. Claire ist Chinesin. Um ihre Familie zu schützen, gibt sie ihre Identität nicht öffentlich preis.

“Wir würden noch viele neue Fälle außerhalb Chinas und wahrscheinlich auch Todesfälle erleben, wenn es nicht die Bemühungen und Fortschritte der chinesischen Regierung gäbe”, hatte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, der Äthiopier Tedros Adhanom Ghebreyesus, getwittert.

Demnach findet Chinas Umgang mit dem Coronavirus zwar einiges Lob, ruft aber auch Kritik hervor. Schließlich wird die persönliche Freiheit von mehr als 50 Millionen Menschen drastisch beschnitten. Zuvor hatten die lokalen Behörden die ersten Virusfälle im Dezember noch zu vertuschen versucht. Ärzte, die sich in sozialen Medien über mysteriöse Fälle von Lungenentzündung ausgetauscht hatten, waren von der Polizei zum Schweigen gebracht worden.

“Ich habe die Leichen in den Krankenhäusern gesehen”

Auch eine Übertragung des Coronavirus von Mensch zu Mensch wurde von den Offiziellen anfangs ausdrücklich ausgeschlossen, selbst dann noch, als Wissenschaftler das Gegenteil bewiesen hatten. Währenddessen konnte sich das Virus unkontrolliert verbreiten. Vergleichsweise spät beschlossen die Behörden in einer dramatischen Wende, die Metropole Wuhan, und damit einen Verkehrsknotenpunkt mit elf Millionen Einwohnern, komplett zu sperren. Die Nachbarstädte in der Provinz Hubei folgten dem Beispiel. Bis heute sind schätzungsweise 56 Millionen Menschen in Hubei eingeschlossen – das entspricht beinahe der Bevölkerung Italiens.

Gesundheitsexperten warnen jedoch auch davor, dass solch drastische Maßnahmen auch einen gegenteiligen Effekt haben könnten. Patienten würden sich vor der Behandlung scheuen. In der Bevölkerung könne eine Massenpanik entstehen. In den ersten Tagen der Abriegelung stürmten verunsicherte Menschen die Krankenhäuser, egal ob kerngesund oder krank.

Bilder in den sozialen Netzwerken zeigen überfüllte Wartezimmer und lange Schlangen in den Kliniken. “Ich habe mehrere Leichen in den Krankenhäusern gesehen”, berichtet der Bürgerjournalist Chen Qiushi in einem Videochat aus Wuhan. Der Anwalt ist in die Stadt gereist, um die Situation zu dokumentieren. “Und ich sah viele Menschen, die mehrere Tage lang Fieber und Husten hatten, aber nicht wussten, ob sie infiziert waren, weil sie in den Krankenhäusern nicht auf das Virus getestet werden konnten.”

“Wir bringen den Müll runter, wenn alle schlafen”

Als Claire von der bevorstehenden Schließung Wuhans hörte, war sie gerade in der Nacht zuvor bei ihren Schwiegereltern angekommen. Gemeinsam mit ihrem Mann freute sie sich auf das chinesische Neujahrsfest, den wichtigsten Familientag in China. Doch morgens um neun Uhr las sie eine Nachricht, wonach es den Menschen ab zehn Uhr verboten sei, die Stadt zu verlassen. “Ich geriet in Panik und sagte meinem Mann, dass wir sofort gehen müssen”, erzählt sie. Sie packten rasch ihre Sachen zusammen und eilten nach draußen, wo sie jedoch weder ein Taxi noch ein Didi, die chinesische Entsprechung eines Uber, finden konnten. Also stellten sie sich vor ein Auto, das an einer Ampel wartete. Sie redeten auf den Fahrer ein und versprachen ihm jede Summe, wenn er sie nur aus der Stadt bringe. Für umgerechnet rund 100 Euro fuhr er sie zu einem Vorort außerhalb von Wuhan. Dort erreichten sie einen Zug, der sie zurück in ihre Heimatstadt brachte.

Taxifahrer in Wuhan tragen Schutzkleidung

Seitdem verlassen Claire oder ihr Mann die Wohnung nur noch, um Einkäufe abzuholen, die von Lieferdiensten am Tor der Wohnsiedlung abgestellt werden, oder um nachts den Abfall zu entsorgen. “Wir warten, bis alle schlafen. Dann setzen wir unseren Mundschutz auf und bringen den Müll runter”, erzählt Claire.

Die chinesischen Großstädte zeigen sich derzeit auf gespenstische Art und Weise menschenleer. Die wenigen Passanten eilen aneinander vorbei und vermeiden jeden Kontakt. Vor einer Klinik in Peking stehen drei Menschen und warten auf ihre Untersuchung. “Das sind nicht so viele kranke Menschen”, sagt eine Frau, die eilig vorbei läuft, “es sieht aus, als ob die Hauptstadt noch nicht so stark vom Virus betroffen ist.” Sie wolle nur schnell etwas Gemüse kaufen und dann sofort wieder heim. “Wir bleiben in diesen Tagen meistens zu Hause”, fährt sie fort. “Die Menschen reagieren schneller als die Regierung.”

“Ich würde es niemand anderem erzählen”

Ein junger Mann wartet am Straßenrand auf ein Taxi. Er habe keine noch Angst, sagt er, solange die Vorsichtsmaßnahmen greifen würden. “Wir müssen überfüllte Orte vermeiden, Masken tragen und uns regelmäßig die Hände waschen. Die Regierung hat uns klare Anweisungen gegeben”, sagt er der DW.


  • Wuhan: Alltag in der abgeriegelten Stadt

    Unterwegs in der Geisterstadt

    Nahezu leere Straßen sind ein seltener Anblick in Wuhan: Elf Millionen Menschen leben in der Megastadt, 58 Millionen im Umland. Kaum ein Monat ist vergangen, seit die Behörden erstmals Fälle einer neuen Lungenkrankheit in Wuhan bekanntmachten. Inzwischen haben sich allein in China über 4000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Am 22. Januar schnitt die Regierung die Stadt von der Außenwelt ab.


  • Wuhan: Alltag in der abgeriegelten Stadt

    Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen

    Wer sich trotz der Ansteckungsgefahr vor die Haustür wagt, muss sich mitunter Kontrollen unterziehen, die bei der Symptomerkennung helfen sollen. Hier misst ein Polizist die Körpertemperatur eines Autofahrers an einem Grenzübergang am Stadtrand. Neben Wuhan stehen 17 weitere Städte in China unter Quarantäne. Es ist die umfangreichste Maßnahme zur Seuchenkontrolle in der Geschichte des Landes.


  • Wuhan: Alltag in der abgeriegelten Stadt

    Arbeiten am Limit

    Kurze Pause: Viel Zeit zum Ausruhen bleibt dem Krankenhauspersonal in Wuhan in diesen Tagen nicht. Die abgebildete Schutzkleidung soll verhindern, dass sich das Virus mit dem offiziellen Namen 2019-nCoV noch weiter verbreitet. In China sind Behördenangaben zufolge bereits mehr als 100 Erkrankte gestorben. Allein in der Provinz Hubei, deren Hauptstadt Wuhan ist, gab es zuletzt 24 neue Todesopfer.


  • Wuhan: Alltag in der abgeriegelten Stadt

    Bagger-Ballett

    Aufnahmen wie diese von zahlreichen Baggern auf einem Baugelände in Wuhan gingen Ende vergangener Woche um die Welt. Die Stadt will in nur wenigen Tagen ein Spezialkrankenhaus für mit dem Coronavirus infizierte Patienten hochziehen, um die überfüllten regulären Kliniken zu entlasten. Das temporäre Krankenhaus soll schon am 3. Februar in Betrieb genommen werden.


  • Wuhan: Alltag in der abgeriegelten Stadt

    Überschattetes Fest, verlängerte Ferien

    Für Millionen Chinesen fiel das wichtige Neujahrsfest wegen des Virus-Ausbruchs ins Wasser: Viele konnten aufgrund der Reisesperren ihre Familien in anderen Teilen des Landes nicht besuchen, zahlreiche Veranstaltungen wurden abgesagt. Am Montag kündigte die Regierung an, die Neujahrsferien zu verlängern, um mehr Zeit für die Bekämpfung der Krankheit zu gewinnen.


  • Wuhan: Alltag in der abgeriegelten Stadt

    In Bewegung bleiben

    Trotz der Quarantäne geht das Alltagsleben in Wuhan weiter, wie diese Frauen beim Training im Freien unter Beweis stellen. Ob auf der Straße, in der Bahn oder in öffentlichen Gebäuden: Atemschutzmasken sind dabei allgegenwärtig. In einigen Ländern Asiens ist das Tragen von Masken inzwischen verpflichtend. Südkorea will nach Regierungsangaben noch diese Woche zwei Millionen Stück an China liefern.


  • Wuhan: Alltag in der abgeriegelten Stadt

    Evakuierung läuft an

    Neben Millionen Chinesen stecken auch tausende ausländische Staatsangehörige in Wuhan fest. Japan hat Behördenangaben zufolge damit begonnen, die ersten von rund 650 Gestrandeten wieder ins Land zu holen. Die USA wollen am Mittwoch Diplomaten und andere Bürger ausfliegen. Einige Länder, darunter Südkorea, Frankreich, Australien und die Mongolei, planen ähnliche Maßnahmen.

    Autorin/Autor: Helena Kaschel, Bernd Kling


Um die strikten Schutzmaßnahmen umzusetzen, entsteht landesweit ein hektisches Treiben auf allen Ebenen. In Peking gehen die Nachbarschaftskomitees von Tür zu Tür, verteilen Flugblätter und fragen nach, wo es gesundheitliche Probleme gibt. Lautsprecherdurchsagen und Hinweistafeln erinnern die Einwohner daran, sich bei den Behörden zu melden, wenn sie kürzlich aus den schwer getroffenen Regionen zurückgekehrt sind. Hotels, Bürogebäude und Einkaufszentren haben Kontrollpunkte eingerichtet, um die Körpertemperatur der Besucher zu messen.

Im ganzen Land spüren die Behörden Personen auf, die kürzlich die Provinz Hubei besucht haben, und weisen sie an, ihre Wohnungen zwei Wochen lang nicht zu verlassen. Überall im Land berichten Menschen aus Hubei von ihren Schwierigkeiten, ein Hotelzimmer zu finden, oder dass sie von Einheimischen wegen ihrer Herkunft belästigt werden.

In ihrer Heimatstadt in Zentralchina zählt Claire die Tage, bis sie ihr Zuhause wieder verlassen darf. Sie freut sich auf eine Joggingrunde im Freien, den ersten Einkauf und andere Aktivitäten des täglichen Lebens. Dennoch wird sie ihr soziales Leben einschränken, bis die Epidemie unter Kontrolle ist. In der Öffentlichkeit will sie weiter schweigen “Die Behörden, meine engen Freunde und meine Familie wissen, dass wir in Wuhan waren. Aber ich würde es niemand anderem erzählen”, sagt sie. “Ich würde ihnen nur Angst machen.”

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