Merkel und das Zittern: Hymne im Sitzen

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Angela Merkel zittert – und das ganze Land ist besorgt. Am Donnerstag setzte sich die Kanzlerin beim Staatsempfang dann einfach hin. Schwäche zeigen in der Politik? Das ist in Deutschland kein Tabu mehr.

Warum ist bloß niemand früher auf diese einfache Lösung gekommen? Besuch der neuen dänischen Ministerpräsidentin am Donnerstag mit militärischen Ehren in Berlin, und Kanzlerin Merkel und ihr Gast setzen sich einfach auf Stühle. Ganz ruhig und ohne jedes Zittern lauschte Merkel den Hymnen beider Länder.

Am Mittwoch wieder eine Zitter-Attacke

Noch am Mittwoch hatte die 64 Jahre alte Regierungschefin den dritten Zitteranfall binnen weniger Wochen erlitten, beim Stehen im Ehrenhof des Kanzleramts. Aber wenig später präsentierte sich Merkel dann wieder so, wie alle sie kennen, seit vielen Jahren. Ruhig und sachlich, ohne große Emotionen, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen: “Mir geht es gut. Ich habe neulich schon einmal gesagt, dass ich in einer Verarbeitungsphase der letzten militärischen Ehren mit dem Präsidenten Selenskyj, bin. Die ist offensichtlich noch nicht ganz abgeschlossen, aber es gibt Fortschritte. Und ich muss damit jetzt eine Weile leben. Mir geht es sehr gut. Man muss  sich keine Sorgen machen.” Und das nur eine Stunde, nachdem Angela Merkel wieder heftig gezittert hatte.

Merkels Gesundheit: Top-Thema im Boulevard

Die Kanzlerin krank? Am Ende mit ihrer Kraft? Am Tag nach der bislang letzten Attacke titelt Deutschlands größtes Boulevardblatt: “Es hört einfach nicht auf.” Tatsächlich hatte Merkel Mitte Juni den neuen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, empfangen. Und im Hof des Kanzleramts heftig gezittert. Neun Tage später das gleiche Bild. Im Schloss Bellevue wurde die neue Justizministerin vereidigt, und wieder bebte die Kanzlerin, hielt angestrengt die Hände vor dem Körper, war aber wieder ganz bei sich, sobald sie sich bewegen konnte.

Einfach nicht genug getrunken?

Beim ersten Vorfall an der Seite des ukrainischen Präsidenten hieß es von Seiten der Regierung, Merkel habe zu wenig getrunken. Tatsächlich war die Hitze an diesem Tag in Berlin besonders groß. Nach dem zweiten Vorfall erfuhren Journalisten aus dem Kanzleramt, es handele sich womöglich um eine Art psychologischer Reaktion, was Merkel jetzt offiziell bestätigte.

Was klar und auch sehr verständlich erscheint, wurde von der Pressestelle der Regierung dennoch wie eine geheime Staatssache behandelt. Wenige Minuten, bevor die Kanzlerin offen davon sprach, dass sie nun erst einmal damit leben müsse, hier und da zu zittern, wiegelte ihre Sprecherin Ulrike Demmer ab. Mit der Kanzlerin sei alles gut: “Sie hat ja auch in den vergangenen drei Wochen alle Termine bester Dinge absolviert.”  Das stimmt. Merkel sagte keine Termine ab, verhandelte beim G20-Gipfel in Japan bis in die Nacht. Und schon da beteuerte  Merkel: “Mir geht es gut!”

Kranke Politiker? Für Deutschland eine Neuheit.

Dass am Ende in Deutschland dann doch relativ offen darüber gesprochen wird, wie es der Kanzlerin geht und auch sie Stellung bezieht, ist eine neue Entwicklung. Gesundheitsmeldungen von Kanzlern waren in der Vergangenheit eher die Ausnahme.

Die Redaktion empfiehlt

Es gibt zahlreiche Ursachen, warum ein Betroffener plötzlich zittert oder krampft. Oftmals hilft Flüssigkeitszufuhr und Ruhe. Unkontrolliertes Zittern muss nicht, kann aber eine ernsthafte Erkrankung ankündigen. (10.07.2019)

Willy Brandt, SPD-Kanzler Anfang der Siebziger Jahre, hatte lange depressive Phasen, ohne dass die Deutschen davon erfuhren. Helmut Kohl überstand als Kanzler 1989, kurz vor dem Mauerfall, auf einem CDU-Parteitag einen Umsturzversuch von Partei-internen Kritikern, und das mit höllischen Schmerzen wegen einer Prostata-Erkrankung. Kein Mensch erfuhr davon.

Die Kanzler wussten offenbar, was sie taten. Die Deutschen, denen Verlässlichkeit in der Politik ein hohes Gut ist, mögen es nicht, wenn ihre politischen Führer schwächeln und wollen es zumeist auch nicht wissen. Auch Politikern wird mehr als in anderen Demokratien in Deutschland eine Privat-Sphäre zugestanden. Das wird anderswo durchaus differenziert gesehen. In den USA wird offen über die Blutwerte des Präsidenten berichtet, auch in Frankreich ist es keine Ungehörigkeit, über den Gesundheitszustand des Präsidenten zu sprechen. Jedenfalls heute. Das Beispiel USA zeigt aber auch, dass das nicht immer so war: Die Präsidenten Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy waren während ihrer Amtszeiten schwer krank, was die Öffentlichkeit kaum erfuhr.

Fulltime-Job trotz Multipler Sklerose

Das Verhältnis Öffentlichkeit und Krankheit verändert sich nun also auch in Deutschland. Einzelfälle haben dazu beigetragen. So hat die populäre Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer von der SPD, schon immer offen über ihre Erkrankung an Multipler Sklerose berichtet. Diktaturen und gelenkte Demokratien tun sich damit schwerer. Ob in Osteuropa oder in Asien, in Afrika oder Lateinamerika: Diktatoren und Autokraten werden nicht krank, jedenfalls nicht offiziell. Auch um dieses Image zu untermauern, reitet ein Wladimir Putin mit nacktem Oberkörper durch die Landschaft. In Deutschland hat Angela Merkel während der militärischen Ehren fürs Erste die Dramatik aus der Debatte um ihren Gesundheitszustand genommen. Sie selbst hat ja gesagt: “Ich muss vorerst mit dem Zittern leben.” Jetzt hat sie damit angefangen.


  • Schwäche zeigen verboten?

    Regieren vom Bett aus

    Bereits im Jahr 2014 musste Angela Merkel nach einem Skiunfall in der Schweiz kürzer treten. Diagnose: unvollständiger Beckenbruch. Die Kanzlerin habe starke Schmerzen und müsse mehrere Wochen “viel liegen”, erklärte der Regierungssprecher. Doch auch verletzt regierte Merkel weiter. Für Kabinettssitzungen schleppte sie sich mit Krücken ins Kanzleramt. Vizekanzler Gabriel musste nicht einspringen.


  • Schwäche zeigen verboten?

    Keine Schwäche zeigen

    Dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl machte im Jahr 1989 die Prostata Probleme. Das kam zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt: Beim Parteitag der CDU in Bremen bereitete ein parteiinterner Konkurrent den Putsch gegen Kohl vor. Um keine Schwäche zu zeigen, verheimlichte Kohl die Erkrankung, kam zum Parteitag und setzte sich durch. Danach ließ er sich endlich operieren.


  • Schwäche zeigen verboten?

    “Annähernd hundertmal ohnmächtig”

    “Ich bin nie ganz gesund gewesen”, das gab Altkanzler Helmut Schmidt im Jahr 2014 zu. Während seiner Amtszeit habe er immer mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt. Doch er und seine Mitarbeiter machten daraus ein gutgehütetes Geheimnis. Immerhin sollen sie ihn oft sogar ohnmächtig in seinem Büro gefunden haben.


  • Schwäche zeigen verboten?

    Staatsgeheimnis Krebs

    Frankreichs Ex-Präsident Georges Pompidou starb unerwartet im Jahr 1974. Doch so plötzlich kam der Tod nicht: Pompidou hatte Krebs und konnte es über Jahre verschleiern. Auch Präsident François Mitterrand (Bild) war unbemerkt krank. Schon zum Amtsantritt gaben die Ärzte ihm nur noch drei Jahre zu leben. Daraus wurden 15. Kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt starb er an Prostatakrebs.


  • Schwäche zeigen verboten?

    Kranker Wahlkampf

    In den USA können Krankheiten durchaus Wahlen entscheiden. Im Rennen um das Weiße Haus zwischen Donald Trump und Hillary Clinton wurde der Ex-Außenministerin ein Amateurvideo zum Verhängnis. Darin sah man eine angeschlagene Hillary Clinton, die sich kaum auf den Beinen halten konnte. Clintons Arzt sprach von einer Lungenentzündung. Konkurrent Trump betonte seine blendende Gesundheit.


  • Schwäche zeigen verboten?

    Staatschef unter Schmerzmitteln

    John F. Kennedy war eine Lichtgestalt. Niemand vermutete, dass der junge Präsident zeitweise acht verschiedene Medikamente am Tag nehmen musste. Kennedy litt an der Addison-Krankheit, einer Unterfunktion der Nebennierenrinde. Ohne Behandlung wäre diese Krankheit tödlich ausgegangen. Mehrmals soll Kennedy die letzte Ölung erhalten haben, heißt es aus engen Kreisen. Das alles blieb geheim.


  • Schwäche zeigen verboten?

    Präsident im Rollstuhl

    Politiker weltweit verschleiern ihre Krankheiten. Doch niemandem gelang das besser als US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Als er 1933 ins Amt kam, saß er bereits zehn Jahre im Rollstuhl. Seine Wähler wussten davon nichts. Welche Krankheit er hatte, ist bis heute unklar. Es existieren nur drei Fotos, auf denen Roosevelt im Rollstuhl sitzt. Die Nation war geschockt, als er 1945 “plötzlich” starb.


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    Ein neues Leben vor dem Tod

    Die Diagnose Nierenkrebs veränderte das Leben von Sloweniens Ex-Präsident Janez Drnovšek schlagartig. Der Politiker, der von 1992 bis 2002 fast durchgängig Premier und anschließend Präsident seines Landes war, zog sich zurück. Er trat kaum noch öffentlich auf, tauschte Villa gegen Berghütte, lebte vegetarisch und wandte sich dem Buddhismus zu. 2008 starb er an seiner Krankheit.

    Autorin/Autor: Patrick Große