Menschenrechtsaktivist Ojub Titijew: Ein Jahr hinter Gittern

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Ojub Titijew von der russischen Menschenrechtsgruppe Memorial wurde in Tschetschenien wegen angeblichen Drogenbesitzes festgenommen. Seine Kollegen halten den Fall für konstruiert. Eine Bestandsaufnahme.

Ojub Titijew, ehemaliger Sportlehrer und Boxtrainer, übernahm die Leitung der Vertretung der renommierten russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Tschetschenien im Jahr 2009. Kurz vorher war die leitende Mitarbeiterin, Natalia Estemirowa, entführt und ermordet worden.

Titijew machte sich stark sich für Ermittlungen bei Entführungen, Folter und Tötungen, die tschetschenischen Sicherheitsbehörden vorgeworfen wurden. Auch Untersuchungen zu Kriegsverbrechen in beiden Tschetschenien-Kriegen gehörten zu seinem Schwerpunkt. Schließlich engagierte sich Titijew auch humanitär, etwa für den Wiederaufbau von Schulen in den Bergregionen der Kaukasus-Republik. 

Die Verteidigung schildert seinen Fall so: Titijew sei am Morgen des 9. Januar 2018 zunächst von Polizisten des Dorfes Kurtschaloj in Tschetschenien entführt worden. Die Polizisten hätten ihn in ein Revier gebracht, ohne ein Protokoll über die Festnahme zu verfassen. Dort sollen sie versucht haben, ihn zu einem Geständnis zu zwingen, dass er Drogen transportiert habe. Als Titijew sich weigerte, habe man ihn zurück auf eine Landstraße gebracht und eine Festnahme durch die Straßenpolizei inszeniert, die dann angeblich ein Päckchen mit Marihuana in seinem Auto unter dem Fahrersitz gefunden hat.

Memorial-Büros durchsucht und ausgebrannt

Am 17. Januar 2018 haben Unbekannte das Büro von Memorial in der benachbarten russischen Teilrepublik Inguschetien niedergebrannt. Am 19. Januar wurde das Büro in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny durchsucht, wobei angeblich zwei Marihuana-Zigaretten gefunden wurden. Das Büro bekam eine SMS mit einer Drohung und der Forderung zu schließen. Die meisten Mitarbeiter von Memorial in Tschetschenien waren gezwungen, die Republik zu verlassen.

Ausgebrannt: Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial in Inguschetien

Die Anwälte glauben, der Vorwurf gegen den Menschenrechtsaktivisten sei grob konstruiert. Titijew, ein ehemaliger Sportler und gläubiger Muslim, sei bekannt dafür, dass er Drogen und Alkohol ablehne. Der Fall enthalte viele Ungereimtheiten, sagte Rechtsanwalt Ilja Nowikow der DW. So seien alle Videokameras im Polizeirevier und in Polizeiautos, die eine erste Festnahme von Titijew und den späteren Drogenfund hätten festhalten sollen, kaputt gewesen. Ebenfalls ausgefallen seien alle Videokameras auf Apotheken, Banken und Geschäften im Dorf Kurtschaloj entlang der Route, die Titijew und die Polizei passiert hatten. Das Auto Titijews auf dem Parkplatz des Polizeireviers sei aufgebrochen worden. Eine Videokamera, die die Fahrt aufzeichnet, und ein GPS-Sensor seien ausgebaut worden. Die Liste könne man fortsetzen, so Nowikow.      

Polizisten leiden an Massen-Amnesie

Im Prozess haben Polizeimitarbeiter bestritten, dass die schnelle Eingreiftruppe existiere, die Titijew ursprünglich festgenommen hatte. Dabei lassen sich in sozialen Medien deren Fotos in entsprechender Uniform finden. Die Polizisten versicherten vor Gericht, sie alle hätten am 9. Januar 2018 an einer Amnesie gelitten: Sie konnten sich an die Farbe ihrer Uniform, die Automarken und eigene Decknamen nicht erinnern. Die Verteidigung fand heraus, dass es auch Fotos in Polizeiuniform von einigen Zeugen gibt, die beim angeblichen Drogenfund dabei waren. Einer der Zeugen erklärte, diese Fotos seien ein Scherz: Seine Freundin habe ihn gebeten, die Polizeiuniform zu tragen.

Will keine Menschenrechtsaktivisten in Tschetschenien: der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow

“Wir sehen Dutzende Zeugen, die entweder einer nach dem anderen eine gelernte Lüge wiederholen – und man sieht, wie unangenehm es für sie ist. Oder sie erfinden ihre eigene Lüge, etwas, was die Wahrheit in diesem Prozess ersetzen soll”, sagte Alexander Tscherkasow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial, zur DW.  

Tschetschenien – No-Go-Area für Menschenrechtsaktivisten?

Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow sagte bei einem Treffen mit der Führung des Innenministeriums der Republik im August 2018, wer sich in in Tschetschenien für Menschenrechte einsetze, sei Persona non grata, also unerwünscht. “Ich kann nicht nach Europa und in den Westen reisen, also erkläre ich: Menschenrechtsaktivisten haben kein Recht, mein Territorium zu betreten”, so Kadyrow, der auf Sanktionslisten der EU und der USA steht. Er habe gegen solche Personen “Sanktionen” eingeführt, die nach dem Prozessende gegen Titijew in Kraft träten. “Ich sage den Menschenrechtsaktivisten offiziell: Nach dem Prozessende ist Tschetschenien für sie verbotenes Territorium, genauso wie für Terroristen und Extremisten”, zitiert Kadyrow die Moskauer “Nowaja Gaseta”.  

Der Prozess gegen Titijew hat inzwischen international hohe Wellen geschlagen. Die OSZE hat eine Untersuchung von Fällen begonnen, an denen Titijew gearbeitet hat. Russland wurde empfohlen, das Vorgehen der tschetschenischen Behörden zu untersuchen. Sollte das nicht geschehen, droht eine internationale Ermittlung. Das EU-Parlament hat im Oktober 2018 Titijew mit dem Vaclav-Havel-Preis ausgezeichnet. Und die Regierungen von Deutschland und Frankreich haben ihm im Dezember einen gemeinsamen Preis “Für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit” verliehen. Der Prozess gegen Titijew in Tschetschenien geht weiter.

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