Lissabon: Touristen gegen Einheimische

0
232

Sechs Millionen Besucher gegen 500.000 Einwohner: Portugals Hauptstadt leidet unter ihrer Beliebtheit bei Urlaubern. Während die Stadt weiter auf Tourismus setzt, beginnen die Bewohner sich zu wehren.

Im Lissabonner Stadtteil Graça herrscht dicke Luft: Die Einwohner des alten Traditionsviertels werden immer weniger und sind immer schlechter gelaunt. Kein Wunder: durch die verwinkelten Gassen hinter der Burg ziehen schon früh morgens immer mehr Touristen ihre Rollkoffer, alte Wohnungen wurden zu AirB&B-Apartments modernisiert, Elektro-Tuk-Tuks stauen sich hinter den Straßenbahnen. Sechs Millionen Urlauber haben die portugiesische Hauptstadt im vergangenen Jahr besucht; heimgesucht sagen die Bewohner der alten Stadtteile. Denn für sie ist immer weniger Platz in ihrer Heimatstadt.

“Wir waren ausgebucht”, sagt Vitor Matias, der Direktor des Luxushotels Tivoli Oriente und freut sich. Der Eurovision Song Contest (ESC), Lissabons Hauptattraktion vor einer Woche, hatte noch ein paar Tausend Besucher mehr in die portugiesische Hauptstadt gelockt. Praktisch alle Hotels waren ausgebucht, unter 150 Euro die Nacht war kaum ein Zimmer zu bekommen. Auch bei diversen Internetplattformen war fast alles voll, dabei hat die Hauptsaison noch nicht einmal begonnen. “Im Treppenhaus treffe ich nur noch Leute, die fremde Sprachen sprechen und die ich nicht kenne”, klagt die Rentnerin Dona Elisa. Die 86jährige versteht die Welt nicht mehr: Viele der alten Nachbarn aus dem Viertel Graça sind weggezogen, in ihren inzwischen teuer sanierten Wohnungen schlafen jetzt Touristen. “Ich erkenne mein Viertel nicht wieder.”

ESC-Siegerin Netta aus Israel

Touristeninvasion in der Altstadt

Die Redaktion empfiehlt

“Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet”, ein oft zitierter Satz des deutschen Schriftstellers Hans-Magnus Enzensberger. Wann Venedig immer noch eine Reise wert ist, weiß DW-Reporter Juan Martinez. (21.02.2018)

Touristen kommen gern auf die mexikanische Insel Cozumel. Das ist gut für die Wirtschaft, aber nicht unbedingt für die Natur. Jetzt versucht das Land, sein blaues Meer und die einzigartigen Korallenriffe zu schützen. (20.03.2018)

Das Geschäft mit dem Urlaub boomt. Weltweit ist inzwischen jeder 10. Arbeitsplatz mehr oder weniger vom Tourismus abhängig. Die Schattenseite: Menschenmassen, wohin man sieht. Aus Berlin berichtet Sabine Kinkartz. (06.03.2018)

Auf der Reisemesse ITB in Berlin ist Overtourism eines der meist diskutierten Themen. Mallorca, Venedig, Berlin – alle leiden unter den Auswüchsen des Tourismus. Dabei sind Touristen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. (07.03.2018)

Vor 25 Jahren hat eine Gruppe Forscher die Alpen überquert. Diesen Sommer haben sie die Reise noch mal gemacht und enorme Veränderungen festgestellt, vor allem in Bezug auf Mensch und Natur. (19.09.2017)

Doch Lissabon ist ‘in’ und der Bürgermeister tut alles, damit das so bleibt. Beispiel ESC: Da hat die Stadt fünf Millionen Euro für Werbung investiert. “Wir rechnen mit Einnahmen von 25 Millionen während des Wettbewerbs. Eine solche Chance durften wir uns nicht entgehen lassen”, rechnet Fernando Medina vor. Aber immer mehr Lissabonner klagen über die Touristeninvasion. Sie habe einen viel zu hohen Preis, die Stadt verliere ihren Charakter, die Lebensqualität für die Einheimischen sinke.

Dass etwas aus dem Ruder läuft, belegt schon die Einwohnerstatistik: Auf gerade einmal 500.000 Lissabonner kommen inzwischen sechs Millionen Touristen; in der spanischen Hauptstadt Madrid, die zwölf Millionen besuchten, leben immerhin 3,3 Millionen. “Einen Lissabonner in Lissabon zu treffen ist schwer geworden”, scherzt darum Luís Paisana mit säuerlicher Miene. Er ist Vorsitzender des Anwohnervereins von Bairro Alto, einem anderen Altstadtviertel und Touristen-Hotspot. Was jedoch schlimmer ist: Ebenso wie im Bairro Alto wird in allen Altstadtvierteln immer mehr Wohnraum zweckentfremdet: “Einst billige Wohnungen werden zu Ferienapartments umgebaut”, stellt Paisana fest. “Die alten Mieter, die die neuen, extrem hohen Mieten nicht bezahlen können, werden aus ihren Wohnungen geworfen.” Immer mehr Lissabonner müssen in die Schlafstädte um die Hauptstadt ziehen, weil sie sich das Leben in Lissabon nicht mehr leisten können.

Eine der Touristen-Attraktionen in Lissabon: A Elevador de Santa Justa

Widerstand gegen Immobilienspekulation

Widerstand gegen die Gentrifizierung beginnt sich zu rühren. “Ich bin 79 Jahre alt und hier geboren”, sagt Felicidade Silva aus dem Stadtteil Alfama unter der Burg. “Und ich gehe hier nur weg, wenn ich sterbe.” Ihr Vermieter hat ihr die Wohnung gekündigt, nach dem in Lissabon inzwischen üblichen Schema: Eigenbedarf anmelden, umbauen, dann an Touristen vermieten. Weil sie keine bezahlbare neue Wohnung fand, zahlt sie jetzt die Miete auf ein Sperrkonto ein, so wie es ihr auf der Gemeinde empfohlen wurde.

Die Stadtteilverwaltung beschäftigt mittlerweile schon drei Rechtsanwälte, die den alten Bewohnern bei Kündigungen helfen sollen, die Rentnerin Felicidade Silva will um ihre Wohnung kämpfen. Der Stadtteilbürgermeister Miguel Coelho spricht von einem sozialen Abgrund, der sich wegen des Tourismus in den historischen Stadtteilen um die Burg auftue. Rund 3500 Wohnungen wurden in der Altstadt zu Ferienapartments umfunktioniert, sind für Lissabonner mit einem Durchschnittseinkommen unter 1000 Euro im Monat unerschwinglich geworden.

Touristen genießen die Aussicht auf die Stadt

Lebensqualität sinkt

Dazu kommen die Menschenmassen: Schon am frühen Morgen ist die Touristenschlange am Martim-Moniz-Platz endlos, alle wollen mit der Straßenbahnlinie 28 durch die Stadt fahren – die vor allem älteren Anwohner, die auf dieses Verkehrsmittel angewiesen sind, haben keine Chance. Die Immobilienpreise im Viertel steigen in astronomische Höhen, alte Stadtteilläden sind zu Souvenirshops geworden. Auch darum hat Miguel Coelho, der Stadtteilbürgermeister, eine Bürgerinitiative gegen die Entvölkerung der Altstadt gestartet. Ob das etwas helfen wird, bleibt abzuwarten. „”Die Stadt interessiert sich nur für das Geld, das der Tourismus bringt”, schimpft Luís Paisana aus dem Viertel Bairro Alto. “Die Lebensqualität der Lissabonner ist dem Bürgermeister ganz egal.”

Der sieht sogar ein noch größeres Potential. Lissabon habe sich inzwischen als Tourismusziel etabliert, könne aber durchaus noch mehr Besucher verkraften, meint Fernando Medina. Internationale Veranstaltungen wie der ESC seien ideal, die Stadt am Tejo-Fluss international noch bekannter zu machen. Lissabon sei dank des ESC in aller Munde, die Touristenzahlen dürften in diesem Jahr erneut beachtlich steigen. Sehr zum Leidwesen der Bewohner der Altstadtviertel, wettert Luís Paisana. Er hat sich den ESC darum nicht einmal im Fernsehen angeschaut.