ESC 2018: Mehr Musik, weniger Show und doch nur Geschmacksache

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Der 63. Eurovision Song Contest ist Geschichte, Israel hat gewonnen – verdient. Es gab allerdings bessere Songs. DW-Reporterin Silke Wünsch weiß aber auch, dass es bei Musik um reine Geschmacksache geht. Eine Bilanz.

Endlich wieder ein lachender deutscher Teilnehmer: Michael Schulte ist Vierter

Salvador Sobral hat nach seinem ESC-Sieg im vergangenen Jahr gesagt: “Wir leben in einer Zeit von Wegwerfmusik, mit Fast-Food-Musik ohne jeden Inhalt. Musik soll etwas bedeuten.” Musik sei kein Feuerwerk, Musik sei Gefühl. “Also lasst uns das ändern und Musik zurückbringen”, hatte er noch im Konfettiregen gesagt.

Das saß. Sein Lied “Amar pelos dois” war ein Statement gegen die übertriebene ESC-Glitzerwelt, gegen Windmaschinen, Pomp und Getöse, gegen Pyrotechnik und Lasershows. Sobral stand einfach auf der Bühne in Kiew, sang sein Lied und gewann so hoch wie noch nie ein Lied gewonnen hat. Dieser Sieg hat Wirkung gezeigt.

Mehr Raum für die Musik

Viele Lieder setzten auf starke Texte, es wurde auch wieder mehr in den Landessprachen gesungen. Und auch die Bühne war in diesem Jahr anders als sonst. Nämlich schlichter. Es gab keine LED-Wand, die in den letzten Jahren für so spektakuläre Effekte gesorgt hat. In Lissabon wurde mit Spots, Formen und Farben gearbeitet, der Einsatz von Nebel, Feuer und Laser war eher spärlich gesät.

Spärliche Beleuchtung bei Cesár Sampson aus Österreich

So wirkte das Geschehen auf der Bühne zuweilen so, als seien die Lampen ausgefallen; gerade bei den Balladen hätte den Sängern etwas mehr Licht ganz gut getan. Aber: So konnten die Songs auch viel besser wirken. Wie das ruhige Stück aus Frankreich, in dem das Schicksal eines Flüchtlingskindes beschrieben wurde. Oder wie der italienische Beitrag, in dem es um Terror und Gewalt ging. Oder der Song vom Deutschen Michael Schulte. 

Feuchte Augen

Schulte, der im Netz eine große Fanbase hat, aber als Chartbreaker noch nicht in Erscheinung getreten ist, hat den Song “You Let me Walk Alone” für seinen Vater geschrieben, der gestorben ist, als Michael 14 Jahre alt war. Sein Vater sei immer bei ihm, wenn er dieses Lied singe, sagt der Sänger – und an diesem Abend konnte man daran glauben.

Michael Schulte vor seiner Kulisse

Schulte hatte feuchte Augen und ein in sich gekehrtes Lächeln. So merkwürdig das klingen mag: Das kam rüber, nicht nur an den Bildschirmen, auch in der Halle, wo Zuschauer Tränen in den Augen hatten. Dass er mit so einer Nummer so stark sein würde, damit hätte vor einer Woche noch niemand gerechnet. Aber seine Authentizität kam gut bei den Zuschauern an. Es geht also doch – vielleicht haben die Verantwortlichen für den deutschen ESC-Beitrag tatsächlich alles richtig gemacht und sich intensiv mit dem Geschmack eines internationalen Publikums auseinandergesetzt. So ist zu hoffen, dass Michael nicht nur ein Glückstreffer ist, sondern dass das Auswahlkonzeptfür den deutschen Beitrag 2019 beibehalten werden kann. 

Ohne Getöse geht es nicht

Doch ohne zünftige Knalleffekte funktioniert dann doch kein ESC. Eleni Foureira hat mit ihrerm Bühnenfeuerwek “Fuego” genau das gemacht, was Sobral nie wieder sehen wollte. Und die Fans haben es gefeiert und auf Platz 2 gewählt. Auch nicht schlecht hat Estland abgeschnitten, das seine Sopranistin in einem monströsen Lichtkleid (50 Quadratmeter Stoff) auf die Bühne schickte oder die Ukraine, bei deren Kandidaten ein Flügel brannte.  

Auch der israelische Siegertitel ist nicht gerade leise und gefühlvoll. Der Text klingt dümmlich (“I’m not your toy – you stupid boy”) – nach dem Motto: Hauptsache es reimt sich. Doch die Botschaft ist klar: “Du darfst mich gefälligst nicht so behandeln, ich bin ein vollwertiger Mensch.” Obwohl der Song sehr laut, schräg und schrill daherkommt, mögen ihn die Zuschauer. Und er polarisiert genauso wie im vergangenen Jahr der Titel von Sobral, von dem viele sagten, dass es eine schreckliche Schnulze sei.

Man kann einfach nicht jeden Geschmack treffen. Obwohl bei diesem Wettbewerb so ziemlich alles dabei war – von der Opernarie aus Estland, über Pop, Balkanbeats und Ethnoballaden bis hin zum lauten Metalbrett aus Ungarn. Allein unter den Top Five sind Songs, die unterschiedlicher kaum sein können – die laute Tanznummer aus Zypern, die Soulballade aus Österreich, ein Chanson aus Italien und das nachdenkliche Singersongwriter-Stück von Michael Schulte.

Netta ist nach vielen Jahren mal wieder eine schrille Teilnehmerin

Gefühle oder Getöse?

Die ESC-Fans mögen Gefühle genauso wie sie schrille Auftritte mögen. Wenn schrille Auftritte aber auch noch mit einer Botschaft rüberkommen, die so punktgenau in die aktuelle #MeToo-Debatte passt – dann gewinnt eben ein Song wie der von Netta, einer jungen Frau, die immer gehänselt worden ist und sich nun mit einem Schlag befreit hat.

Salvador Sobral hat über diesen Song übrigens gesagt, er habe Nettas Hühnergacker-Elektropop-Lied angeklickt und “heraus kam etwas Schreckliches”. Auch dies ist reine Geschmackssache. Sicher hat Sobral durch seine Worte und seinen Song ein Umdenken angestoßen und einige damit erreicht. Aber der ESC ist und bleibt, was er seit über 60 Jahren ist. Ein Musikzirkus mit vielen Facetten und großem Unterhaltungswert für ein Millionenpublikum. Und das will beides: Gefühle und Getöse.