Kolumne: Berliner Schnauze als Aushang

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Überall in Berlin finden sich öffentlich ausgehängte Notizen, mit denen Bürger ihrem Ärger Luft machen oder ihren Spaß treiben. Sie lassen tief blicken in die Berliner Seele, meint unser Kolumnist Gero Schließ.

“So frech sind die Berliner eben”, lacht Rufus und schnipselt weiter an meinem störrischen Haar. Als wüsste ich es nicht selber. Ich habe meinem Friseur gerade eine Zettelnachricht vorgelesen, die in einem der vielen Berliner Innenhöfe aushängt:

“Es ist verboten (sich) auf dem Hof aufzuhalten, zu schwätzen, sich zu übergeben und zwischen den Mülltonnen zu f****”.

Soweit die Berliner Hof-Etikette.

“It’s Kreuzberg, Alter!”: Die Bitte des Nachbarn um Musik in Zimmerlautstärke stößt nicht überall auf offene Ohren

Wenn Sie in der deutschen Hauptstadt wohnen und wissen wollen, was die Nachbarn wirklich über Sie denken? Kein Problem. Schauen Sie sich genau um. Irgendwo könnte ein Zettel hängen mit freundlichen Hinweisen wie dem folgenden: 

“Hier wohnen auch Leute, die euch nicht nachts um 1 auf dem Balkon singen hören wollen. Eure Unterhaltungen interessieren keinen und habt ihr euch nicht schon zwanzigmal getrennt? Geht zur Paartherapie. Trennt euch endlich! Aber macht wenigstens das Fenster zu. Danke! Die übernächtigte Nachbarschaft”.

Berliner Hofromantik pur. Innenhöfe sind Fundgruben für solche liebevollen Aushänge. Und es gibt viele von ihnen. Die typische Berliner Mietskasernen-Bauweise eben: Vorderhaus, Seitenhaus und Hinterhaus bilden ein Karree. Und in der Mitte der Innenhof, oft klein und dunkel. Die Leute hängen eng aufeinander. Das drückt auf die Stimmung und lässt verschwenderisch umgehen – mit verbalen Ohrfeigen: 

“Du bist schön, aber bitte zieh dir eine Tüte über deinen Charakter”.

Oh ja, so sind die Berliner: Direkt, peinlich, beleidigend – auch außerhalb der Innenhöfe: Am Laternenpfahl, auf der Häuserwand oder an die Windschutzscheibe Ihres Autos geklemmt.

Analoge Kommunikation

Auch so kann man zu einer Demonstration aufrufen – zumindest in Berlin

Facebook, Instagram und andere digitale Medien sind überbewertet, zumindest für viele Berliner. Sie hängen noch an der analogen Kommunikation (übrigens auch, wenn sie im Straßenverkehr kraftvoll auf die Hupe drücken). Das ist wie eine andere, eine parallele Welt, die ich aus keiner anderen Stadt kenne: nicht aus New York, nicht aus Moskau, nicht aus London. 

Für mich ist das so etwas wie die Berliner Schnauze als Aushang. Das Seelenleben der Berliner in schwarz-weiß. Das, was ich da lese, lässt nämlich oft tief blicken. Zum Beispiel in die Art des Berliner Humors:

“Nochmals vielen Dank für die mutwillige Beschädigung meines Fahrzeugs! Du bist das Beispiel für eine eindeutig misslungene Sozialisierung”. 

Berliner Galgenhumor eben. Und von da ist es manchmal nur ein ganz kleiner Schritt bis zum Größenwahn:  

“Wer klaut oder zerstört kommt ganz sicher in die Hölle. Euer Jesus”.

Ein tiefer Blick in die Seele Berlins: Unser Kolumnist Gero Schließ über die Zettelaushänge, die überall in der Hauptstadt zu finden sind

Ganz schön cool kommt das rüber, denke ich mir.  Auch Joab aus München sieht das so. Als Neu-Berliner und frischer Student der Kulturwissenschaften machte er sich vor zwölf Jahren erstmals mit seiner Kamera auf Entdeckungsreise durch die Berliner Stadtteile und stieß auf viele dieser Zettelnachrichten: “Diese Fundstücke treffen sehr oft den Nerv”, erklärt er mir seine Begeisterung. Die Zettel zeigen, was die Menschen im Kiez wirklich bewegt.

Joab hat recht: Plötzlich tut sich hier das andere Berlin auf, abseits von Touristenpfaden und Party-Verklärung.

Notes of Berlin

Auf der Internetseite “Notes of Berlin” veröffentlicht Joab die treffendsten Sprüche. Einige von ihnen habe ich hier zitiert. Es ist so etwas wie ein Gemeinschaftsblog der Berliner geworden. Mehr als 27.000 “Notizen” haben sie bisher eingeschickt. 

Passt wie die Faust aufs Auge – nicht nur am Valentinstag

Ok, für manche von uns ist schnell mal die Grenze des guten Geschmacks überschritten. Gerade, wer nicht die grobschrötige Berliner Luft atmet, mag sich ob solcher Sprüche nur schütteln. Nicht vor Lachen, sondern vor Empörung.

Doch es geht auch anders, liebevoll verschmitzt. Bei meinem Blumenhändler musste ich plötzlich schmunzeln: “Veilchen gefällig?”, stand da mit Kreide auf ein Schild geschrieben. Das war kurz vor dem Valentinstag. Wie heißt es doch so schön: Das passte wie die Faust aufs Auge.