Gastkommentar: Die Hongkonger sollen schweigen und vergessen

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In diesem Jahr wurden die traditionellen Mahnwachen am Jahrestag des Tiananmen-Massakers verboten – angeblich wegen Corona. Warum sie dieses Verbot keinesfalls beachten werden, erklären Glacier Kwong und Joshua Wong.

Gedenken an den 30. Jahrestag des Massakers im Victoria Park in Hongkong im vergangenen Jahr

Seit drei Jahrzehnten werden im Hongkonger Victoria-Park alljährlich Kerzen zum Gedenken an die Opfer des Massakers vom 4. Juni 1989 entzündet. Nach 2020 könnte damit allerdings Schluss sein. Wenige Tage nach der Entscheidung des Nationalen Volkskongresses in Peking, ein Sicherheitsgesetz für Hongkong zu erlassen, hat die Polizei die Erlaubnis für die alljährliche Mahnwache verweigert. Anstelle von brennenden Kerzen werden wir nun vielleicht Schlagstöcke, Tränengas, Gummigeschosse und gewalttätige Polizisten im Victoria-Park erleben.    

Zum Zeitpunkt des Massakers waren wir noch nicht geboren. Aber wir haben im Laufe der Jahre an Gedenkveranstaltungen wie im Victoria-Park teilgenommen und uns über die Tragödie informiert, bei der vor 31 Jahren Tausende chinesische Bürger und Studenten von chinesischen Soldaten getötet wurden. Sie starben für die Sache der Freiheit und Demokratie. Wir haben aus dem, was auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) geschah, diese Lehre gezogen: Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) steht für eine brutale Diktatur, die, wenn es um ihren Machterhalt geht, sogar ihre eigenen Bürger tötet.

Gegen das verordnete Vergessen

Auch nach mehr als 30 Jahren bleibt Tiananmen ein Tabuthema der chinesischen Politik und Geschichtsschreibung. Die Parteiführung tut alles in ihrer Macht Stehende, um das Thema aus dem öffentlichen Gedächtnis zu verbannen. Gedenkveranstaltungen werden verboten, die Internetzensur löscht alle Einträge zum 4. Juni, führende Teilnehmer der damaligen Demokratiebewegung und ihre Angehörigen werden regelmäßig in Gewahrsam genommen. 

Joshua Wong (re.) und Glacier Kwong (Mitte) im September 2019 vor der Bundespressekonferenz in Berlin

Peking hat es stets abgelehnt zuzugeben, dass die Entscheidung jener Nacht moralisch falsch war, das Feuer auf die Demonstranten zu eröffnen. Ebenso wenig war Peking jemals bereit, eine Opferbilanz zu präsentieren. Xi Jinping und seine Vorgänger an der Spitze der KPCh haben niemals erkennen lassen, dass sie die blutige Unterdrückung der Demokratiebewegung etwa bereuten. Vielmehr zeigen sie sich zunehmend verärgert über die Demokratiebewegung in Hongkong und verstärken die Unterdrückung in Tibet und Xinjiang. Die Forderung nach Einhaltung fundamentaler Menschenrechte war und ist für diese Führer eine Bedrohung der Macht der Partei.   

Hongkong war bislang ein sicherer Zufluchtsort für Dissidenten, von hier aus kann man einem immer mächtiger werdenden China die Wahrheit sagen. Die jährliche Mahnwache am 4. Juni hat eine wichtige symbolische Aussage: ‘Es gibt Leute, die sich an das erinnern, was 1989 geschah, es gibt Leute, die sich nicht davor fürchten, die Wahrheit zu sagen.’ Trotz der friedlichen Natur dieser Mahnwache ist es für Peking unerträglich, die Bürger Hongkongs nicht kontrollieren zu können und seine Untaten von vor 31 Jahren nicht vergessen machen zu können.

1989 hat die KPCh jegliche Legitimität verloren

Vielleicht wird dieses Jahr das letzte Mal sein, das wir am 4. Juni über diesen Tag öffentlich reden können. Sobald das neue Sicherheitsgesetz in Kraft ist, wird allein die Erwähnung des 4. Juni Anlass für Strafverfolgung sein. Die Pekinger Führung will jegliches Bemühen im Kampf für unsere Grundrechte verhindern, sie will Hongkong seine Freiheit und Vielfalt gewaltsam wegnehmen, und an deren Stelle nur noch absolute Loyalität gegenüber der KPCh gelten lassen. Diese Loyalität können wir jedoch nicht anbieten. Denn am 4. Juni 1989 hat die Partei jegliche Legitimität verloren, als sie im Interesse des Machterhalts mit rücksichtsloser Gewalt gegen die Demonstranten vorging.  

Die Einführung des Sicherheitsgesetzes und das Verbot der Mahnwache dienen demselben Ziel: Die Hongkonger sollen zum Schweigen gebracht werden. Wir rechnen damit, dass die Polizei alle Versammlungen am 4. Juni auflösen wird. Das macht uns Sorgen, aber wir können nicht freiwillig unsere Freiheit aufgeben. Wir könnten diesen Tag auch einfach vorübergehen lassen, aber das ist für uns keine Option: Wir werden handeln, weil es das Richtige ist. Wir haben ein Recht darauf, an die Geschehnisse vor 31 Jahren in Peking zu erinnern. Würden wir darauf verzichten, hätten wir auch kein Recht an die Geschehnisse in Hongkong in den vergangenen zwölf Monaten in Hongkong zu erinnern.

Joshua Wong (Jahrgang 1996) ist Generalsekretär der pro-demokratischen Hongkonger Organisation Demosisto. Seit 2014 gilt er international als einer der Wortführer der Proteste in Hongkong.

Glacier Kwong gehört ebenfalls zum pro-demokratischen Lager und ist Gründerin der Nichtregierungsorganisation Keyboard Freedom, die Datenschutzverletzungen und Zensur im Internet überwacht.