Riem Hussein: “Es muss immer nach Leistung gehen”

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Es war ihr erster Einsatz bei einer Frauenfußball-Weltmeisterschaft: Schiedsrichterin Riem Hussein spricht im DW-Interview über die VAR-Premiere, ihren persönlichen Zuschauerrekord und Gleichberechtigung im Sport.

DW: Sie haben in Frankreich ihr WM-Debüt als Schiedsrichterin gegeben – wie war das für Sie?

Riem Hussein: Es war eine großartige Erfahrung für mich. Für die FIFA hat dieses Turnier den gleichen Stellenwert wie das der Männer. Wir wurden unmittelbar vor der WM in einem neuntägigen Seminar nochmal auf dieses Turnier vorbereitet. Unter anderem mit Trainingsspielen, die wir noch pfeifen mussten, auch die Arbeit mit dem Video-Assistenten haben wir ganz intensiv geübt. Das ganze Drumherum bei solch einem Turnier ist gewaltig, und das zu erleben war sehr beeindruckend. Mit den entsprechenden Einsätzen macht es natürlich umso mehr Spaß.

Es gab viele Regel-Neuerungen und das gleich beim wichtigsten Turnier überhaupt. Wie sind Sie damit zurechtgekommen? 

In der Theorie war es eine gewaltige Anzahl an Neuerungen. Mein erster Gedanke war, dass man an das eine oder andere während des Spiels vielleicht gar nicht denkt. Aber es war ganz und gar nicht so. Wir Schiedsrichter sollten und haben dann auch die neuen Regeln von Anfang an konsequent umgesetzt. Bei mir kamen aber auch gar nicht alle neuen Regeln  zum Einsatz. Aber ich bin der Meinung, dass diese Regeländerungen dem Fußball gut tun und im Sinne der Spieler und des Spiels sind. Beispielsweise muss eine Spielerin bei einer Auswechslung den kürzesten Weg zur Seitenlinie nehmen, um den Spielfluss und die Netto-Spielzeit zu erhöhen.

Erstmals kamen Video-Assistenten zum Einsatz – für Sie auch eine Premiere. 

Wir hatten in drei Trainingsseminaren in Abu Dhabi beziehungsweise Doha bereits zuvor die Arbeit mit dem Video-Assistenten intensiv trainiert. Aber in einem Wettbewerb, wie bei der WM, war es für mich und viele andere Kolleginnen das erste Mal. 

Wie fällt Ihr Fazit aus? 

Positiv. Der Video-Assistent dient als eine Art Fallschirm, der mich als Schiedsrichterin vor einer Fehlentscheidung bewahren kann. Zudem steigert der Video-Assistent bei den Mannschaften und Zuschauern die Akzeptanz der getroffenen Schiedsrichterentscheidung. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Spielerinnen die Unterstützung des Video-Assistenten sehr gut angenommen haben und einige Fehlentscheidungen dadurch reduziert worden sind.

Großen Wirbel gab es um die neue Regel, dass Torhüterinnen beim Elfmeter mit nur noch einem Fuß, statt wie bisher mit zwei, auf der Linie stehen muss. 

Die Regel hat man ja im Prinzip eingeführt, um den Torhüterinnen zu helfen. Für den Video-Assistenten ist ein solches Fehlverhalten der Torhüterin beim Strafstoß mit den Videobildern eindeutig zu identifizieren. Das sind dann faktische Entscheidungen wie Abseits. Für den Zuschauer sind wenige Zentimeter möglicherweise zu tolerieren, für den Video-Assistenten, der den Vorgang am Bildschirm unparteiisch bewerten muss, darf das aber keine Rolle spielen.

Sie haben drei WM-Spiele gepfiffen: Zwei Gruppenspiele und ein Achtelfinale. Welches bleibt Ihnen am meisten in Erinnerung? 

Alle drei Spiele, auf ihre ganz besondere Art und Weise. Das erste Spiel war großartig. Das war Brasilien gegen Jamaika in Grenoble. Ausverkauftes Haus, wirklich wie ein kleiner Hexenkessel. Da passen zwar “nur” 18.000 Zuschauer rein, aber es war eine atemberaubende Atmosphäre. Dieses Spiel war sehr gut auf mich zugeschnitten. Es ging hin und her, Tempofußball auf beiden Seiten, beide Teams wollten gewinnen. Ich empfand dieses Spiel als einen perfekten Einstieg. Im zweiten Spiel hatte ich meinen persönlichen Zuschauerrekord: Fast 50.000 Zuschauer, ein ausverkaufter “Prinzenpark” in Paris. Die USA, der spätere Weltmeister, traf auf Chile. Das war etwas Besonderes, weil auch meine Familie im Stadion war, zwei meiner Geschwister sind extra angereist. Im dritten Einsatz ein K.o.-Spiel zu pfeifen, das Achtelfinale [Norwegen gegen Australien, Anm. d. Red.], in dem es für beide Teams ums Weiterkommen ging, war von der Wertigkeit des Spiels natürlich sehr besonders für mich.

Zweites WM-Spiel für Riem Hussein, USA gegen Chile in Paris: “Mein persönlicher Zuschauerrekord”

Deutschland ist bereits im Viertelfinale ausgeschieden. Hätte das nicht Ihre Chance erhöhen müssen, noch ein Spiel zu pfeifen? 

Nach dem Achtelfinale hat die FIFA die Gruppe der Aktiven, die noch im Turnier dabei waren, auf mehr als die Hälfte reduziert. Es wurde bestimmt berücksichtigt, ob das eigene Teilnehmerland noch am Turnier beteiligt war oder nicht. Ich persönlich bin aber mit meinem Turnier sehr zufrieden, auch wenn ich zu der Gruppe gehörte, die die Heimreise antreten musste. Ich habe drei anspruchsvolle und tolle Spiele leiten dürfen und habe von der FIFA, aber auch aus Deutschland ein sehr positives Feedback erhalten. Diesen Rückenwind möchte ich gerne für meine anstehenden Aufgaben nutzen.

Halten Sie es für sinnvoll, wenn eine Männer-WM von Frauen-Schiedsrichterinnen und anders herum gepfiffen werden? 

Ich finde, es sollte in allen Spielklassen immer nach Leistung gehen. Diese Diskussion sollte man unabhängig vom Geschlecht führen. Wenn eine Frau die physischen Anforderungen erfüllt, warum sollte sie nicht bei einem solchen Turnier dabei sein dürfen?

Testspiel im September 2015 im Männer-Profifußball: Riem Hussein unterhält sich mit Schalkes Klaas-Jan Huntelaar

Dr. Riem Hussein ist eine deutsche Fußballschiedsrichterin palästinensischer Abstammung, die hauptberuflich als Apothekerin arbeitet. Bevor sie 2005 DFB-Schiedsrichterin wurde, war sie als Stürmerin in der 2. Bundesliga aktiv. Bei den Männern pfeift Hussein seit der Saison 2015/16 in der 3. Liga. Damit ist sie nach Bibiana Steinhaus die zweite deutsche Schiedsrichterin, die im professionellen Männerfußball eingesetzt wird. Bei der Frauen-WM 2019 leitete Hussein drei Spiele: die Gruppenspiele Brasilien gegen Jamaika und USA gegen Chile sowie das Achtelfinale Norwegen gegen Australien. 

Das Interview führte Sarah Wiertz.