Ukraine vor Machtkampf um Neuwahlen

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Um eine drohende Auflösung des Parlaments zu verhindern, lässt eine Regierungspartei in Kiew die Koalition platzen. Ein Kräftemessen mit dem neu gewählten Präsidenten Selenskyj könnte die Ukraine lähmen.

Die politische Atempause nach der Präsidentenwahl in der Ukraine ist vorbei. Die “Volksfront”, die Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, verkündete am Freitag ihren Austritt aus der Koalition im Parlament. In der Begründung wird zwar eine neue Koalition angestrebt, doch in Wirklichkeit dürfte es darum gehen, eine Auflösung des Parlaments durch den gewählten Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu verhindern. Selenskyjs Amtseinführung ist für Montag (20. Mai) geplant, rund vier Wochen nach seinem historischen Sieg gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko, mit 73 Prozent der Stimmen. 

Präsident ohne Parlamentsmehrheit 

Seit Monaten wird darüber spekuliert, dass der 41-jährige politische Neuling und bekannte Fernsehkomiker die Gunst der Stunde nutzen möchte, um seine eigene Partei mit einer möglichst großen Zahl an Abgeordneten ins Parlament zu bringen. Ohne eine eigene Partei im Parlament sind Selenskyj in vielen Fragen die Hände gebunden, denn das eigentliche Machtzentrum ist laut Verfassung die Regierung.

Selenskyj braucht die Unterstützung des Parlaments

Umfragen sehen die bisher kaum bekannte Partei von Selenskyj, die er nach seiner beliebten TV-Serie “Diener des Volkes” benannt hatte, mit rund 30 Prozent oder sogar mehr mit großem Abstand vor anderen Parteien. Ob solche Beliebtheitswerte bis zur regulären Parlamentswahl Ende Oktober halten, ist allerdings fraglich. Deshalb dürfte Selenskyj versuchen, das Parlament aufzulösen und den Weg für Neuwahlen im Juli freizumachen: Das ist die Einschätzung vieler Beobachter. Ein Berater bestätigte in einer Fernsehsendung, dass der neue Präsident Neuwahlen anstreben werde. 

Selenskyj unter Zeitdruck

Viel Zeit hat Selenskyj für seine Entscheidung nicht – nur eine Woche bis zum 27. Mai. Danach beginnt laut Verfassung eine Art Schonfrist, die eine Auflösung des Parlaments sechs Monate vor einer regulären Wahl verbietet. Die nächste Parlamentswahl würde dann planmäßig am 27. Oktober stattfinden.    

Genau das strebt offenbar die “Volksfront” an. Das Parlament hat nach dem Bruch der aktuellen Koalition 30 Tage Zeit, um eine neue zu bilden. Sollte das scheitern, darf der Präsident das Parlament auflösen. Doch dann würde die in der Verfassung festgehaltene sechsmonatige Schonfrist greifen. 

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Zäsur in der Ukraine

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Was will der neue Präsident der Ukraine?

Warum Selenskyj doch das Parlament auflösen könnte 

Trotzdem dürfte Selenskyj in den kommenden Tagen versuchen, das Parlament aufzulösen. Eine juristische Grundlage dafür sei bereits vorhanden, berichten ukrainische Medien. So hat ein Gericht in Kiew im Rahmen eines anderen Verfahrens Anfang März eine formelle Bestätigung der Koalition im Parlament angefordert und bisher nicht erhalten.

Tatsache ist, dass die 2014 gegründete Koalition mit dem Namen “Europäische Ukraine” bereits im Februar 2016 zerfiel. Damals wechselten drei Parteien in die Opposition, darunter die “Vaterlandspartei” der früheren Regierungschefin Julia Tymoschenko. Geblieben war eine Allianz von “Volksfront” und “Poroschenkos Block”, die sich mit Hilfe von fraktionslosen Abgeordneten wechselnde Mehrheiten verschafft hat. “Es gibt faktisch seit drei Jahren keine Koalition”, sagte Selenskyj am Freitag. Der gewählte Präsident nannte den Austritt der Volksfront “ein Spiel im Parlament”, verzichtete jedoch auf Drohungen.    

Gefahr einer politischen Lähmung  

Ob es im ukrainischen Parlament bis zu diesem Freitag eine Koalition gab oder sie bereits früher zerbrach – diese Frage dürfte bald ukrainische Gerichte beschäftigen und am Ende vor dem Verfassungsgericht landen. Dort gab es erst vor wenigen Tagen einen Wechsel an der Spitze: Der Vorsitzende Richter wurde am 14. Mai durch ein Misstrauensvotum von seinen Kollegen abgesetzt. Ob es einen Zusammenhang mit der drohenden Parlamentsauflösung gibt, bleibt eine Spekulation. 

Der sich abzeichnende Machtkampf zwischen Präsident und Parlament um Neuwahlen dürfte die ohnehin politisch und wirtschaftlich lange geschwächte Ukraine zusätzlich lähmen. Unklar ist auch, wie sich die Zusammenarbeit zwischen dem neuen Präsidenten und dem Regierungschef Wolodymyr Hrojsman entwickeln wird. Beide sind zwar gleich alt, 41, doch Hrojsman war bisher Poroschenko-treu, während Selenskyj vor allem als ein Gegner des scheidenden Präsidenten die Wahl gewann und seinen Anhängern einen Neuanfang versprach. 

Sollte es doch nicht zu vorgezogenen Parlamentswahlen kommen, könnte sich Selenskyj – ähnlich wie bisher Poroschenko – auf wechselnde Mehrheiten im Parlament stützen. Besonders schwer dürfte es nicht sein, was eine Abstimmung über den Tag seiner Amtseinführung zeigte. Der ursprüngliche Vorschlag von Selenskyj, die Zeremonie im Parlament am 19. Mai abzuhalten, bekam 207 Stimmen und verfehlte damit nur knapp die notwendige Mehrheit von 226 Stimmen. Das scheint eine ausreichende Basis zu sein, die der neue Präsident ausbauen könnte.


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Der Clown

    In der erfolgreichen TV-Serie “Diener des Volkes” spielt Wolodymyr Selenskyj – hier beim Dreh – einen Geschichtslehrer, der Präsident der Ukraine wird. Nun trat Selenskyj tatsächlich für das Amt an und hat es direkt in die Stichwahl geschafft. Der Komiker und TV-Produzent ist im ganzen Land bekannt. In einem Wahlkampfspot nennt er sich selbst einen Clown. Ob ihm das zum Sieg am 21. April verhilft?


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Der Hollywood-Star

    Hätten Sie ihn erkannt? Das ist Ronald Reagan, Präsident der USA von 1981 bis 1989. In seiner früheren Karriere war er als Schauspieler gefragt, hier im Film “Königin der Berge”. Aus heiterem Himmel wurde Reagan aber nicht Präsident. Von 1967 bis 1975 war er kalifornischer Gouverneur. Im Wahlkampf war er von Hollywood-Größen wie John Wayne und Walt Disney unterstützt worden.


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Der Extravagante

    Unter dem Namen “Sweet Micky” wurde Michel Martelly in den 1980er Jahren berühmt. Der Musiker war für schrille Kleidung auf der Bühne bekannt – und der BBC zufolge auch dafür, dass er dort gerne seine Hose herunterließ. Von 2011 bis 2016 war Martelly Präsident von Haiti. Er kümmerte sich um den Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben von 2010. Dies machte Hurrikan “Matthew” wieder zunichte.


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Der Virtuose

    Eine kleine Reise in die Geschichte: Der erste Weltkrieg war gerade vorbei, als der begnadete Pianist und Komponist Ignacy Jan Paderewski zum Ministerpräsidenten und Außenminister des wiedergegründeten Polens berufen wurde. Als solcher unterschrieb er für Polen den Friedensvertrag von Versailles. Nach nicht einmal einem Jahr trat Paderewski wieder ab, blieb der Politik aber phasenweise treu.


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Der Weltmeister

    Als Kricketspieler feierte der amtierende pakistanische Ministerpräsident große Erfolge: Als Mannschaftskapitän führte Imran Khan (Mitte mit der Fahne) sein Team 1992 zum Weltmeistertitel. Schon 1996 gründete er eine Partei und war zeitweise Abgeordneter im Parlament. 2018 wurde seine “Bewegung für Gerechtigkeit” stärkste Kraft – und Khan zum Ministerpräsidenten gewählt.


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Der Ballkünstler

    Sportliche Erfolge verbuchte auch George Weah. Der Liberianer spielte als Stürmer bei diversen europäischen Top-Fußballklubs. 1995 schaffte er es an die Weltspitze: Weah wurde als bislang einziger Afrikaner FIFA-Weltfußballer. Schon 2005 versuchte er, Staatsoberhaupt in seinem Heimatland zu werden, unterlag aber Ellen Johnson-Sirleaf. Ende 2017 klappte es dann mit dem Präsidentenamt.


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Die Skandalnudel

    Auch Silvio Berlusconi (hier 2003, Mitte) ist kein Berufspolitiker. Das Studium finanzierte sich der Italiener als Conférencier, Pianist und Sänger bei Kreuzfahrten. Er machte sich als Bau- und Medienunternehmer und mit diversen Skandalen einen Namen. Seine Partei “Forza Italia” wurde 1994 aus dem Stand stärkste Kraft. Die erste von Berlusconis vier Amtszeiten als Ministerpräsident begann.


  • Als Quereinsteiger in die Politik

    Die Hoffnung der Jugend

    Noch kein Präsident, will aber 2021 vermutlich antreten: der Rapper Bobi Wine. Unter seinem bürgerlichen Namen Robert Kyagulanyi sitzt er seit 2017 in Ugandas Parlament. Er mobilisiert die überwiegend junge Bevölkerung gegen Langzeitpräsident Yoweri Museveni. Wine scheint gewissen Personen auf die Füße zu treten: Sein Chauffeur wurde getötet, er selbst verhaftet und mutmaßlich gefoltert.

    Autorin/Autor: Uta Steinwehr