Mein Europa: Europa, mon amour

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“Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine.” Der Satz des ehemaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher wird zuletzt von vielen zitiert. Europa geht jeden Einzelnen von uns an, sagt Jagoda Marinic.

Vor zehn Jahren noch hießen in Kroatien viele Cafés, selbst im ländlichen Hinterland, “Café Europa”. In der dalmatinischen Hafenstadt Split saßen Touristen und Einheimische im unprätentiösen “Café Genscher”, philosophierten vor dem Meer. Wenn man betonen wollte, dass etwas im Land gut lief, stellte man klar: “Das ist europäischer Standard.” Inzwischen reden nur noch wenige von Dingen, die im Land gut laufen. Und Europa begegnet man mit Skepsis.

Es gab einmal die Hoffnung, Europa brächte eine bessere Zukunft mit sich, Fortschritt, nach dem sich viele nach Jahren des Stillstands und Kriegs gesehnt hatten. Aus dieser einstigen Hoffnung ist inzwischen eine der größten Migrationsbewegungen Europas geworden: Die junge, gebildete Generation, die den Bürgerkrieg nicht erlebt hat, befindet sich im Exodus. Selbst Ältere verlassen das Land – viele davon nach Deutschland. Von der “Zukunft Europa” ist die Freiheit geblieben, Arbeit in Deutschland zu finden und sein Land zu verlassen, oftmals in unterqualifizierten Jobs zu arbeiten. Europa ist nicht gekommen. Kroatiens dalmatinische Küste boomt als Tourismusstandort, doch der Reichtum der Einen ist der Drei-Euro-Stundenlohn der Anderen. Die Cafés in Split heißen inzwischen “Café Ego”.

Europa braucht Mut

In dieser Europawoche fanden drei zentrale Ereignisse statt, die Europas Schwäche, Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit demonstrierten: Der Musterschüler Macron erhält den Karlspreis in Aachen, hält ein Plädoyer für Europa und kritisiert in einer flammenden Rede die deutsche Fiskalpolitik und Exportwut. Er kennt Merkel schlecht, wenn er annimmt, sie ließe sich auf diese Weise öffentlich unter Druck setzen. Er kennt Deutschland gut, wenn er davon ausgeht, die Deutschen ignorierten, welche Vorwürfe die Franzosen Macron für seine Sparpolitik machen.

Macron bekommt den Karlspreis in Aachen: Kritik der deutschen Fiskalpolitik

Viktor Orban setzte den nächsten Paukenschlag und provoziert nach seiner Wiederwahl mit der Aussage, das Ende der liberalen Demokratie sei gekommen.

Und die USA kündigen den Iran-Deal auf und zeigen die Schwäche Europas als Global Player. Viele Länder im Nahen Osten rechnen nicht mehr mit den USA. Und Europa ist zu schwach, diese Lücke zu füllen. Macron beschwor auch hier die europäische Stärke, den Mut. Er löste Begeisterung damit aus – doch die Reaktionen nach seinen letzten Reden im Europaparlament zeigen, dass Merkel mit ihrem Zögern nicht allein dasteht.

Dieses Europa braucht Mut, ja. Wer Europa liebt, der wird derzeit nicht müde, auf den Frieden hinzuweisen, den uns die europäische Zusammenarbeit gebracht hat, und auch mehr Wohlstand, doch nicht für alle. Die Überzeugungsversuche der Politik müssen sich ins Alltagsleben der Menschen übersetzen. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist derzeit zu groß, ein Vertrauensvorschuss in Richtung “Mehr Europa!” wird schwer zu machen sein. Über die Schwächen dieses Europas schweigen sich jene, die für Europa werben, aus. Das ist ihre größte Schwäche, beim Werben für mehr Europa. Misstrauen überschattet die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Hieße das noch mehr Macht für eine supranationale Instanz wie die EU – bei gleichbleibend wenig demokratischer Legitimation?

Europa braucht Demokratie

Die liberale Demokratie ist nicht wegen ihrer demokratischen Grundwerte in die Kritik geraten, sondern wegen der Fokussierung des liberalen Aspekts insbesondere auf den Weltmarkt und die Deregulierung zugunsten der globalen Konzerne, Banken und Immobilieninvestoren. Es ist das Europa der Reichen, denken viele. Mit “liberal” verbinden die meisten Europäer nicht die universellen Menschenrechte, sondern die Tatsache, dass, zum Beispiel in Portugal, nach dem Eingreifen der Troika die Mietbremse aufgehoben und der Wohnungsmarkt liberalisiert wurde. Nun kann sich kaum ein Einheimischer mehr eine Wohnung im Zentrum von Lissabon leisten – stattdessen Massentourismus, ausländische Investoren, Niedriglöhne, Ausbluten der öffentlichen Einrichtungen. Das ausländische Kapital entheimatet die Menschen derzeit. Die einzige Abwehr, die ihnen jedoch bleibt, ist “das Ausländische” anzugreifen, weil das Finanzkapital eine Abstraktion ist, gegen die Wut sich nicht richten kann.

Promenade in Split: “Cafe Ego” statt “Cafe Europa”

Macron wird in Deutschland gefeiert, weil er eine schöne Rede hält. Gleichzeitig organisieren die Intellektuellen in Frankreich Proteste gegen seine Politik, die die Fehler der deutschen Agenda 2010 zu wiederholen droht. Macrons Führungsstil wurde zuletzt vom Philosophen Jean-Claude Monod als “autoritärer Liberalismus” beschrieben. Auf dem internationalen Parkett mache er sich gut, doch im Landesinneren leide die Pluralität. Macrons Kürzungen beträfen auch den Bildungsbereich und jene schönen Künste, mit denen sich der gebildete Präsident international gerne rühmt. Die Ethik des Kompromisses rückt jedoch bei Macron in immer weitere Ferne. Orban ist schon dort, wo der Kompromiss nicht mehr zu finden ist. Der Pathos der eigenen Überzeugungen – ganz gleich an welchem Rand des politischen Spektrums – wird die Menschen nicht dazu bringen, an Europa zu glauben.

Europäische Politiker müssen die Ideale, die sie beschwören, in eine Politik für ihre Bürger übersetzen. Wenn “Frieden” als Argument nicht ausreicht, brodelt die Unzufriedenheit. Europa kann wieder zu einer Liebe der Europäer werden, wenn es spürbar um “unsere Zukunft” geht. Vielleicht fänden sich in den kleinsten Dörfern des Kontinents wieder Cafés mit dem Namen “Europa”, Orte, in denen die Menschen wieder trinken und feiern statt nur über ihre Sorgen und Identitätsfragen zu reden – oder Touristen aus reicheren Ländern zu bedienen. Mehr Europa geht nur mit mehr Demokratie.

Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin. Zuletzt erschien von ihr das Buch “Made in Germany – Was ist deutsch in Deutschland?”. Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander.