Top-Eishockey auch ohne NHL-Stars?

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Erstmals seit 1994 werden die weltbesten Eishockeyspieler nicht bei den Olympischen Spielen dabei sein. Doch gerade wegen der Abwesenheit der NHL-Profis, könnte das Olympische Eishockeyturnier hochinteressant werden.

Bei allem Respekt vor den Russen und vielleicht auch vor den US-Amerikanern: Kanada ging jeweils als klarer Favorit in die letzten beiden olympischen Eishockeyturniere und holte sowohl 2010 in Vancouver Gold als auch im Jahr 2014 in Sotschi – wo eigentlich die Russen hätten gewinnen sollen.

Abgesehen von zwei Ausnahmen – 1998 bei der olympischen NHL-Premiere in Nagano gewann Tschechien, 2006 in Turin Schweden – ging die Goldmedaille immer an Kanada, wenn Spieler der National Hockey League (NHL) bei den Olympischen Spielen dabei waren. Team Kanada schlug die US-Amerikaner sogar bei deren Heimspiel in Salt Lake City 2002. Eine erfreuliche Sache für alle Kanadier, aber eine Katastrophe für neutrale Fans.

Das Turnier in Pyeongchang verspricht jedoch eine ganz andere Geschichte: Zum ersten Mal seit 1994 ist die NHL nicht für ein paar Wochen geschlossen, um den Spielern die Teilnahme an den Olympischen Spielen zu ermöglichen. Und obwohl dies viele Fans enttäuscht hat, sind nun nicht wenige der Meinung, dass das Turnier von Pyeongchang eine der interessantesten Olympiaentscheidungen im Eishockey seit Jahren werden könnte.

Schwer zu messen

Wer beerbt Olympiasieger Kanada?

Zum ersten Mal seit langer Zeit ist der Turnierausgang nur ziemlich schwer vorhersagbar. In den Jahren 2010 und 2014 hätten selbst Gelegenheitsfans mit nur einem oberflächlichen Blick auf die Anzahl der NHL-Spieler in den Nationalkadern vorhersagen können, wer die Olympia-Favoriten waren. Dieses Mal aber mussten die Nationaltrainer der führenden fünf oder sechs Nationen wirklich ihre Hausaufgaben machen, um das beste verfügbare Team für ihr jeweiliges Land zusammenzustellen.

Der kanadische Verband etwa arbeitete die vergangenen anderthalb Jahre vor Beginn des Turniers an einem “Plan B”. Der frühere Olympiateilnehmer Sean Burke (1988, 1992) wurde Mitte 2017 neuer Nationaltrainer. Als die NHL schließlich im April bekannt gab, dass sie ihre Saison für diese Olympischen Spiele nicht unterbrechen würde, wurde Plan B zu Plan A. Schaut man sich die Liste der Spieler an, die Burke und sein Scouting-Team gesammelt haben, findet man eine ganze Reihe von Namen, die NHL-Fans zwar bekannt vorkommen, Superstars sind aber nicht dabei. Dasselbe gilt für den schwedischen, den US-amerikanischen und den finnischen Kader.

KHL als Haupt-Talentpool

Auch auf die Russen trifft das zu. Die international bekanntesten Akteure in Reihen der “Sbornaja” sind der zweimalige Stanley-Cup-Sieger Pawel Dazjuk (2002 und 2008 mit den Detroit Red Wings) und Ilja Kowaltschuk (von 2005 bis 2013 NHL-Spieler bei den Atlanta Thrashers und den New Jersey Devils).

Russlands Olympiastarter Wadim Schipatschow, Nikita Gusew und Sergej Kalinin (v.l.n.r.) vom KHLKlub St. Petersburg

Die Russen scheinen jedoch einen Vorteil gegenüber dem Rest der Weltspitze zu haben, vor allem aufgrund der Tatsache, dass ihr Land Heimat der zweitbesten Liga der Welt ist, der Kontinental Hockey League (KHL).

Die KHL ist so stark, dass sie nicht nur die gesamte russische Mannschaft (die offiziell nicht als Russen starten, sondern unter neutraler Flagge antreten) aus ihr rekrutiert. Auch mehr als die Hälfte der Spieler im Team Canada und der Tschechischen Republik, sowie einige Schweden und Finnen verdienen dort ihr Geld. Sogar die US-Mannschaft hat vier Spieler aus der KHL im Olympia-Kader. 

Überraschungspaket?

Und auch wenn die Russen leicht favorisiert ins Turnier gehen: Auch andere Top-Teams profitieren vom hohen Niveau der zweitbesten Liga der Welt. Die Schweden und die Finnen könnten aufgrund ihrer starken heimischen Ligen durchaus in der Lage sein, die Russen im Kampf um Olympisches Gold herauszufordern. Und auch Titelverteidiger Kanada darf wegen seiner reichhaltigen Talentfülle und seiner akribischen Vorbereitung nicht abgeschrieben werden.

Was niemand wirklich weiß, ist, wie sich die Top-Teams auf dem Eis dann tatsächlich schlagen – oder was bisher unbekannte Spieler in Pyeongchang zu leisten im Stand sind, wenn sie plötzlich für ihre Nation auf der ganz großen Bühne antreten. Vielleicht gibt es sogar eine Neuauflage des “Miracle on Ice”, bei dem 1980 ein Team US-amerikanischer College-Kids die ansonsten dominierenden Sowjets in Lake Placid besiegen konnte.

Stark verbesserte Gastgeber

Interessant wird auch sein, wie stark Gastgeber Südkorea auftritt. Südkorea ist noch weit davon entfernt, zur Eishockey-Elite zu gehören. Doch seit feststeht, dass sie die Spiele 2018 ausrichten, haben die Südkoreaner große Anstrengungen unternommen, um das Niveau ihrer Nationalmannschaft anzuheben. Angeführt von ihrem Cheftrainer, dem Stanley Cup-Sieger Jim Paek, und seinem Assistenten Richard Park (mehr als 700 Spiele in der NHL), sind die Südkoreaner gerade in die WM-A-Gruppe aufgestiegen und werden im Mai in Dänemark erstmals bei einer Weltmeisterschaft dabei sein.

Medaillenchance für Deutschland?

Bundestrainer Marco Sturm

Wie offen der Ausgangs des Olympischen Turniers ist, verdeutlicht die Aussage eines kanadischen Radiokommentators, der kürzlich sagte, dass möglicherweise auch Deutschland Gold gewinnen könnte. Wobei es sich hier um ein sehr gewagte Aussage handelt. Denn trotz der Wiederauferstehung der Nationalmannschaft unter Cheftrainer Marco Sturm und der Präsenz des NHL-Veteranen Christian Ehrhoff werden die Deutschen, angesichts ihres relativ kleinen Talentpools, ihre insgesamt sieben NHL-Spieler mindestens genauso vermissen wie alle anderen Teams ihre Top-Spieler.