Streitlustiger Denker – Der Philosoph Peter Sloterdijk wird 70

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Er gilt als einer der wichtigsten Vordenker unserer Zeit. Wortgewaltig greift Peter Sloterdijk in gesellschaftspolitische Debatten ein und provoziert liebend gern neue Denkweisen. Jetzt wird der bekannte Philosoph 70.

Ein außergewöhnlicher Vorgang: Ein hochkompliziert schreibender Philosoph wird 2002 im Land der Dichter und Denker Fernsehmoderator. Zehn Jahre lang saß Peter Sloterdijk, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, der unterhaltsamen Talkrunde “Das Philosophische Quartett” im ZDF vor. Philosophische Streitgespräche, mit Humor ausgefochten, zu grundlegenden Frage der Zeit. Gern befeuerte Sloterdijk diese Denkerrunde mit pointierten Anmerkungen und spitz zugefeilten Fragen. Ein Selber-Denker, ein Gegen-den-Strich-Argumentierer, ein wirkungsmächtiger Wortführer im besten Sinne – eine in der Fernsehlandschaft der deutschen TV-Kanäle ungewöhnliche Konstellation.

Kreativer Vordenker der Politik

Der Mann ist ein Hüne. Das sieht man in den Talkrunden im Fernsehen nicht, aber man spürt es: Peter Sloterdijk, geboren am 26. Juni 1947 im badischen Karlsruhe, ruht in sich, obwohl er im Geist extrem umtriebig ist. Fast jedes Jahr bringt er ein neues Buch heraus. Seine Werke hat er im Kopf fertig gedacht, bevor er sie niederschreibt, erzählt er gern. Inzwischen verfasst der leidenschaftliche Radfahrer sogar Opernlibrettos. “Babylon” von Jörg Widmann und Sloterdijk wurde 2012 von Stardirigent Kent Nagano an der Bayerischen Staatsoper in München uraufgeführt.

Aufschlussreiche Tagebücher

Lässig, wortgewandt und äußerst souverän spaziert Peter Sloterdijk öffentlich in seinen hochkomplexen Gedankengebäuden umher, egal ob bei Small-Talk im Fernsehen oder einem wissenschaftlichen Philosophie-Kongress. Mit seinen provozierenden Thesen hat er sich als politischer Vordenker längst international einen Namen gemacht. Seine harsche Kritik an der Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin entfachte heftige Debatten in den Medien. Er prophezeite, dass Merkel zurückrudern bzw. Europa eine gemeinsame Grenzpolitik entwickeln werde – und behielt recht.

Im Weltinnenraum des Denkuniversums

Die exzessive Beschäftigung mit Philosophie hat ihren Ursprung in seiner Jugendzeit. Er wuchs mit seiner Schwester bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Sein Vater, ein holländischer Marinesoldat, verließ die Familie früh. “Das stumme philosophische Selbstgespräch”, um mit seiner “jugendüblichen Zerrissenheit” fertig zu werden, hat ihn für das Denken stark gemacht und ihn gelehrt, in diesem Gedankengebäude Orientierung zu behalten, sagt Sloterdijk im Rückblick.

1968 war das Jahr seiner intellektuellen Erweckung, ein Jahr, das ihn in seinen politischen Umbrüchen auch geprägt hat. Zum Studium ging er zuerst nach München, dann nach Hamburg. In rasantem Tempo schrieb er seine Magisterarbeit und promovierte 1976 über “Literatur und Organisation von Lebenserfahrung”. Danach lebte er erst einmal zwei Jahre völlig zurückgezogen im indischen Ashram des Sektenführers Bhagwan Shree Rajneesh und versuchte, zu sich und seinem Inneren zu finden.

Wenn Sloterdijk liest, sind alle still

Anhänger der fröhlichen Denkathletik

1980 taucht Sloterdijk in Deutschland als Schriftsteller auf – und schreibt gleich einen Bestseller: Sein Buch “Kritik der zynischen Vernunft” wird mit 150.000 verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten philosophischen Werk nach 1945. Danach wühlt sich der Schnellschreiber in seinen zahlreichen Werken und Essays quer durch die deutsche Geistesgeschichte. Er setzt sich intensiv und mit brilliant formulierten Analysen mit Nietzsche, Freud, Heidegger und immer wieder mit Habermas auseinander. 1992 wird er Professor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in seiner Heimatstadt Karlsruhe und bringt Studenten kritisches Denken bei. 14 Jahre lang führte er dort als Rektor das Regiment der Kreativen.

Seit 30 Jahren polarisiert Peter Sloterdijk mit seinen gesellschaftspolitischen Schriften. Das scheint ihm Freude zu machen. Als gebürtiger Badener legt er nicht nur Wert auf gutes Essen, sondern auch auf gute Laune beim Philosophieren. Er selbst bezeichnet sich als “Anhänger der fröhlichen Wissenschaft”. Feindschaften und seine Kritikerschar, die bei jedem neuen Buch in den deutschen Feuilletons auf den Plan gerufen werden, kümmern ihn nicht. Kopfschmerzen machen ihm nur Symposien zu seinen Ehren. Sein fortgeschrittenes Alter würde ihm dann immer bewusst, scherzt er. Dabei hat er noch viel vor. Seine ganz private sportliche Philosophie: Spannung halten, niemals aufgeben, immer besser werden.