“Es wird auch hier brennen” – Lesbos will kein zweites Camp

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Moria – das größte Flüchtlingslager Europas – liegt in Schutt und Asche. Fast 13.000 Flüchtlinge sitzen auf der Straße. Europa ist schockiert – und schaut zu. Jetzt entsteht ein neues Camp.

Ungläubig starrt Patrique durch den Maschendraht. In ein paar hundert Meter Entfernung, abgetrennt durch mehrere Stacheldraht-Umzäunungen, errichtet das UN-Flüchtlingswerk UNHCR Zelte. Schnelle Hilfe hatte die griechische Regierung am Dienstagabend versprochen, nachdem ein gewaltiges Feuer das berüchtigte Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos dem Erdboden gleich gemacht hatte. Angekommen ist von dieser Hilfe bisher kaum etwas. “Die wenigen Sachen, die ich hatte, habe ich in den Flammen verloren,” berichtet Patrique. Seit 11 Monaten ist der 42-jährige Angolaner auf Lesbos. Für ihn fast ein Jahr in der Hölle.

“Die Regierung muss uns doch jetzt helfen. Sie müssen uns nach Athen bringen, nach Deutschland oder ein anderes Land in Europa.” Das Zeltlager, das hier vor seinen Augen entsteht, ist für Patrique sicherlich keine Lösung: “In zwei Wochen wird dasselbe passieren. Sie werden wieder Feuer legen.” In seinem Heimatland habe man seine Familie verfolgt und umgebracht, berichtet er. “Sie würden auch mich umbringen. Deswegen bin ich hier. Ich brauche Schutz.” In Griechenland aber habe er diesen nicht gefunden. “Ich habe hier keine Zukunft.”

Ohne Obdach und Nahrung

Nur einen Steinwurf entfernt stehen gepanzerte blaue Busse der Polizei. Dahinter, mitten auf der Hauptstraße in Richtung der Inselhauptstadt Mytilini, säumen tausende von obdachlosen Menschen den Wegrand. Familien, Mütter mit kleinen Kindern, sogar Neugeborenen suchen Schatten. Die Mittagssonne lässt die Temperaturen auf über 30 Grad steigen. Ein paar haben Zelte, die sie von NGOs bekommen haben. Andere haben aus Bambus und großen Blättern kleine Hütten errichtet. Die Flucht und das oft jahrelange Dasein im Lager in Moria haben sie zu Improvisationskünstlern gemacht. Sie sind es gewohnt, trotz der Milliardenzahlungen aus Brüssel an die griechische Regierung, ohne Hilfe auszukommen.

Obdachlos: abwarten – und sich irgendwie einrichten

Zwei Jungen spielen Volleyball. Aus einem defekten Schlauch schießt Wasser. Eine Schlange von Menschen wartet davor, um leere Plastikflaschen aufzufüllen. Frauen haben Blätterzweige zu Besen zusammengebunden und fegen den staubigen Boden unter ihren provisorischen Dächern. Toiletten gibt es keine. Die Menschen müssen ihre Notdurft im Freien verrichten. Inzwischen haben die Behörden und freiwillige Helfer zumindest Wasser verteilt. Aber es fehlt an Essen. “Ich habe heute nur einen einzigen Keks gegessen,” berichtet ein junger Afghane verzweifelt.

Kein Essen – nur Freiheit

“Das Militär kommt um 14.30 Uhr hierhin und bringt Essen,” berichtet eine freiwillige Helferin am Vorabend, als sie auf dem Parkplatz eines Discounters Mahlzeiten verteilt, die sie und andere selbst zubereitet haben.”Es gibt nicht genug Nahrung für alle. Die Essensausgabe ist unorganisiert. Es reicht auch nicht, nur einmal am Tag zu essen. Sie (Anm. der Redaktion: die griechischen Behörden) müssen endlich etwas tun und sich an die Arbeit machen.”

Hass gegen Hilfsorganisationen

Auch für Hilfsorganisationen ist die Lage heikel. Seit den Auseinandersetzungen im März diesen Jahres, als die Gewalt von Einheimischen gegen Mitarbeiter von NGOs und Journalisten außer Kontrolle geriet, haben viele die Insel verlassen. Selbst für Ärzte ohne Grenzen ist der Druck erheblich gestiegen. Kürzlich hatten die örtlichen Behörden eine COVID-Klinik für Flüchtlinge geschlossen, die die Organisation im Kampf gegen die Pandemie in Lagernähe errichtet hatte. Außerdem wurde eine Strafe von 35.000 Euro verhängt. Der Grund: Die Klinik befände sich in einem Gewerbegebiet.

Nach dem Feuer sei die Situation besonders kritisch, erklärt Faris Al Jawad von Ärzte ohne Grenzen. “Gerade jetzt brauchen uns die Menschen. Sie hängen von uns ab.” Aus Sorge vor Übergriffen durch Einheimische aber sei man besonders vorsichtig. “Jetzt geht es darum, herauszufinden, wie die Problemlage ist. Die Menschen sind überall verstreut. Unsere Mitarbeiter gehen herum, sprechen sie an und erklären ihnen, dass die Klinik geöffnet ist.” Doch auch jetzt sei der Kontakt mit einigen Einheimischen schwierig: “Noch vor fünf Minuten ist hinter unserer Klinik jemand mit dem Motorrad hergefahren und hat uns angeschrien.”

Flüchtlingslager auf Lesbos: Leben hinterm Zaun

Deutschland soll Flüchtlinge aufnehmen

Erik Marquardt, Grünenabgeordneter im Europaparlament, hat für solcherlei Hasstiraden kein Verständnis. Doch er weiß: Europa bürdet den Menschen auf Lesbos Unzumutbares auf. “Ich erinnere mich noch gut an 2015, als es hier eine breite Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gab. Da hat man gemerkt, dass man Strukturen braucht, an die man vorher nicht gedacht hat, um sich auf solche Situationen vorzubereiten.” Jetzt, viele Reisen nach Lesbos später, sei die Situation anders: “Die EU hat es nicht geschafft, ein System zu bauen, das Unterkünfte, Schuldbildung, Essensversorgung, aber auch Brandschutz gewährleistet.” Nur so sei möglich gewesen, dass Einzelne ein Feuer legen, und das größte Flüchtlingscamp Europas vollständig abbrennt.” Für ihn ein Vollversagen der Politik. “Wir haben die Menschen zu Opfern an den Außengrenzen gemacht.”

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Lage auf Lesbos bleibt angespannt

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Lage auf Lesbos bleibt angespannt

Für ihn geht es jetzt nach der Brandkatastrophe von Moria darum, strukturell und nachhaltig zu helfen. Mit einem neuen Lager auf Lesbos  aber würde man dasselbe Problem wieder aufbauen. “Wir müssen jetzt erst einmal etwas Zeit gewinnen, damit die Menschen nicht mehr leiden. In dieser Zeit müssen politische Lösungen gefunden werden, aber auf Basis einer Analyse, die zeigt, dass überfüllte Lager an den Außengrenzen immer wieder in einer Katastrophe münden.” Sein Lösungsvorschlag zur unmittelbaren Hilfe treibt in Corona-Zeiten unbenutzt auf dem Meer: “Es gibt viele Kreuzfahrtschiffe, die seit Monaten leer stehen, die man mieten und ein Hygienekonzept entwicklen könnte. So hätte man schon morgen hier mehrere tausend Zimmer mit Quarantänemöglichkeiten.”

In dieser Zeit müssten sich die EU-Staaten endlich ihrer Verantwortung bewusst werden, auch die Bundesrepublik, die derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat: “Wir können nicht eine europäische Lösung suchen und dabei das europäische Problem beibehalten. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, dass man 180.000 bis 200.000 Menschen im Jahr aufnimmt. Seit zwei Jahren scheitert sie daran, ihre Verpflichtung einzulösen. Im letzten Jahr gab es 139.000 Asyl-Erstanträge, in diesem Jahr sogar weniger. Selbst wenn man alle 27.000 Flüchtlinge aufnimmt, die derzeit auf den griechischen Inseln sind, würde man den Korridor der Aufnahmekapazität, die die große Koalition sich selbst gesetzt hat, nicht erreichen.”


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Die Nacht der Brände

    In der Nacht zum Mittwoch waren in dem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos gleich an mehreren Stellen Brände ausgebrochen. Daher gibt es die Vermutung, dass die Brände absichtlich gelegt wurden. Einige Lagerbewohner sprachen von Brandstiftung durch Einheimische. Es gibt aber auch Berichte, nach denen Flüchtlinge selbst die Feuer gelegt haben sollen.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Auf der Straße gelandet

    Die Bewohner des völlig überfüllten Flüchtlingslagers konnten sich retten, offenbar soll es weder Tote noch Verletzte gegeben haben. Nach Angaben griechischer Medien sind viele Menschen auf Hügel und in Wälder in der Nähe des Lagers geflohen. Laut Berichten von Helfern irren Tausende Menschen durch die Straßen, es gebe kein Essen oder Wasser, die Zustände seien chaotisch.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Lebensfeindlich

    Ausgelegt war Moria für 2800 Menschen. Zum Zeitpunkt der Brände lebten dort allerdings rund 12.600 Geflüchtete. Die Lebensbedingungen in dem Flüchtlingslager galten schon vor dem Brand als katastrophal. Wenn man sich dieses Foto nach dem Brand anschaut, wird schnell klar, dass dort in naher Zukunft wohl gar kein menschenwürdiges Leben mehr möglich sein wird.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Nahe an der Türkei

    Das Flüchtlingslager Moria befindet sich im Osten der griechischen Insel Lesbos. Bis zur türkischen Küste beträgt die Entfernung rund 15 Kilometer. Lesbos ist die drittgrößte Insel Griechenlands und hat rund 90.000 Einwohner. Rund 38.000 Menschen leben in der Inselhauptstadt Mytilini, die nur wenige Kilometer von Moria entfernt ist.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Das verpixelte Lager

    Wer sich das Flüchtlingslager Moria bei Google Maps aus der Luft ansehen möchte, hat Pech. Das gesamte Lager ist unkenntlich gemacht. Auf Anfrage der Deutschen Welle gab es nur die allgemeine Auskunft “Google selbst verpixelt Satellitenbilder nicht”. Stattdessen wird auf Drittanbieter verwiesen, die die Satellitenbilder erstellen. Warum das Lager verpixelt wurde, ist unklar.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Das unverpixelte Lager

    Diese Luftaufnahme – wir haben einen ähnlichen Ausschnitt gewählt – zeigt, dass das Lager sich erheblich ausgedehnt hat. Während auf dem Satellitenfoto von Google Maps das Haus mit den roten Dach noch komplett frei stand, scheint es hier vom Lager nach und nach vereinnahmt zu werden.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Der Blick in die Vergangenheit

    Die “Street View”-Aufnahmen der Gegend wurden bereits im Dezember 2011 erstellt. Damals gab es das Flüchtlingslager noch nicht. Stattdessen befand sich dort eine alte Militäranlage. Erst ab Oktober 2015 wurden auf dem Gelände Asylsuchende registriert, bevor sie auf das griechische Festland gebracht wurden.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Früher kurz – heute lang

    Während damals die Migranten nur kurz blieben – dieses Foto stammt aus dem Oktober 2015 -, verlängerte sich die Verweildauer mit dem EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 deutlich. Seitdem warten die Asylsuchenden hier darauf, auf andere EU-Staaten verteilt – oder abgeschoben zu werden.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Warten, warten… und warten

    Durch das EU-Türkei-Abkommen dürfen die Migranten nicht mehr auf das griechische Festland gebracht werden. Dann nämlich würde die Türkei sie nicht mehr zurücknehmen. Da sich die EU-Länder uneins sind, welches Land wie viele Migranten aufnimmt, bleiben sie mitunter lange in dem Lager. Viele Nationalitäten unter schlechten Bedingungen auf engem Raum – kein Wunder, dass es da zu Spannungen kommt.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Wenn Spannungen sich entladen

    Die Spannungen entluden sich bereits im September 2016 in gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen auch Feuer gelegt wurde. Damals befanden sich “nur” rund 3000 Migranten in dem Lager. Große Teile des Lagers wurden zerstört. Nur einen Monat später setzten mehrere hundert Migranten aus Protest gegen die lange Bearbeitungszeit im Lager Container der EU-Asylbehörde in Brand.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Feuer – und Tote

    Im September 2019 gab es einen weiteren großen Brand. Damals fing zunächst ein Olivenhain Feuer, auf den sich das Lager mittlerweile ausgedehnt hatte. 20 Minuten später brach ein weiterer Brand innerhalb des befestigten Lagers aus. Dieses Feuer forderte zwei Menschenleben: eine Frau und ihr Baby. Zu der Zeit hielten sich bereits über 12.000 Menschen in dem Flüchtlingslager auf.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Besuch abgebrochen

    Im August dieses Jahres besuchte Armin Laschet, Ministerpräsident von Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen, Moria. Eigentlich wollte er auch den sogenannten wilden Teil außerhalb des befestigten Lagers besuchen. Das wurde aus Sicherheitsgründen kurzfristig gestrichen. Zuvor hatte sich die Stimmung aufgeheizt und es hatte “Free Moria” Sprechchöre gegeben.


  • Die Hölle brennt – Moria und seine Geschichte

    Und jetzt?

    Ein völlig überfülltes Lager, grausige hygienische und medizinische Bedingungen, ethnische Spannungen – und dann gab es vor kurzem noch die ersten Corona-Fälle. Eine katastrophale Situation. Und das war vor dem Brand. Droht nun die Apokalypse oder ist es vielleicht doch der Startpunkt zu einer neuen menschenwürdigeren Unterbringung? Bislang kann – oder will – niemand diese Frage beantworten.

    Autorin/Autor: Marco Müller