Die Endlichkeit der Landwirtschaft

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Wie viel Fleisch essen wir? Und welche Auswirkungen hat der Konsum tierischer Produkte auf Mensch, Tier, Umwelt? Der Fleischatlas 2018 gibt Antworten.

Als Schnitzel getarnt:: Kalbsbries, aus der Thymusdrüse, gilt in der Sterneküche als Delikatesse

Die Weltbevölkerung hat sich in den vergangenen 50 Jahren verdoppelt – die Fleischproduktion verdreifacht. Ein Trend mit fatalen Auswirkungen: Er fördert Hunger, Armut, erschwert Klima- und Artenschutz. So beschreibt die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO die Lage. Die Deutschen haben 2016 pro Kopf durchschnittlich 59 Kilogramm Fleisch gegessen, etwa eineinhalb Kilogramm weniger als im Vorjahr, jedoch kaum weniger als zehn Jahre zuvor. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt höchstens die halbe Menge. 

Guten Gewissens Fleisch essen? Das ist kaum noch möglich. Die Gesellschaft diskutiert kontrovers über den Konsum von Rind, Schwein und Geflügel. Die einen schwören auf das Low-Carb-Prinzip, setzen bei ihrer Ernährung auf große Mengen Fleisch, Fisch, Eier, Milchprodukte und grillen das ganze Jahr im Freien. Andere sind zu überzeugten Veganern mutiert, verzehren Körner, Salate und Gemüse, lehnen Keule, Filet, sogar Eier konsequent ab. Auch das Tierwohl ist ins Bewusstsein gerückt.

Hund oder Schwein – für Tierschützer gibt es keinen Unterschied zwischen Haustier und Nutztier

Diese Trendwende ist auch eine Reaktion auf den Fleischatlas, der seit 2012 jährlich publiziert wird. Ziel der Tierschützer ist es, die  Verbraucher über ökologische und soziale Schäden zu informieren, die mit der industriellen Produktion von Fleisch verbunden sind. 

Im Auftrag der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der deutschen Ausgabe der französischen Le Monde diplomatique bietet die Broschüre Lösungen an, mit der Absicht, den Konsum zu reduzieren, das Bewusstsein für qualitativen Genuss zu schärfen sowie den Tieren und ihren Produkten mehr Wertschätzung entgegen zu bringen.

Fleischkonsum begünstigt Klimawandel

“Für kein anderes Konsumgut der Welt wird soviel Land benötigt wie für die Herstellung von Fleisch und Milch”, schreibt Christine Chemnitz im ‘Fleischatlas’. “Obwohl nur 17 Prozent des Kalorienbedarfs der Menschheit von Tieren stammt, benötigen sie 77 Prozent des globalen Agrarlands”, führt die Referentin Internationale Agrarpolitik bei der Heinrich-Böll-Stiftung aus. Tendenz steigend. Die Folgen sind Monokulturen, ausgelaugte Böden nach massenhaftem Einsatz von Dünger und Pestiziden, Artensterben, Krankheiten der Landbevölkerung und Wasserknappheit. Nur wenig bekannt: Die Fleisch- und Milchproduktion hat massive Auswirkungen auf die Erderwärmung: Zur Futtermittelproduktion werden zusätzlich riesige Landflächen intensiv bewirtschaftet. Dafür werden Regenwälder abgeholzt, Feuchtgebieten trockengelegt, die als Kohlenstoffspeicher dienten.

Geht auch weniger? Qualitativer Verzehr sollte das Maß aller Dinge sein

Christine Chemitz verweist auf die Welternährungsorganisation FAO, die in der kleinbäuerlichen Tierhaltung eine wichtige Einkommensquelle sieht für Menschen in Entwicklungsländern. Die schnelle Industrialisierung der Tierhaltung und der globale Fleischhandel zerstöre die Lebensgrundlage von Kleinbauern. Soziale Ziele der UN-Agenda 2030 wie die Bekämpfung von Hunger und Armut rückten dadurch in weite Ferne. 

Politisches Marketing für gute Ernährung

Prof. Achim Spiller von der Uni Göttingen beschäftigt sich mit der Ernährungserziehung zur Reduktion des Fleischkonsums und vermisst Bildungs- und Informationsprogramm von staatlicher Seite. “Die Forschung zeigt, dass Informationskampagnen
zu Ernährungsthemen nur langsam greifen, abhängig von dem medialen Druck, der Kreativität und der Überzeugungskraft der Argumente.” Zwei Dritteln der Verbraucher sei der Zusammenhang zwischen dem Konsum tierischer Erzeugnisse und dem Klimaschutz nicht bewusst. Tierschutzlabel mit Angaben zur Einhaltung des Tierwohls, eine Ampelkennzeichnung, die Aufschluss gibt über den Gesundheitswert und über den CO2-Fußabdruck (Anm. die Summe klimaschädlicher Gase, die durch Anbau, Produktion und Transport freigesetzt werden) könnten den nachhaltigen Einkauf erleichtern.

Werbung für einen fleischfreien Tag auf der Genussmesse Anuga in Köln

Die Ausweitung und Bewerbung vegetarischer Gerichte in Schul- und Unikantinen, das Angebot, kleinere Fleischportionen zu wählen, mit der Option des kostenlosen Nachschlags, könnten dazu beitragen, die Ernährungsgewohnheiten allmählich umzustellen, so Spiller.

Knochensuppe, Schweinehirn und Hühnerkarkasse

Wenn schon Fleisch, dann ganz und gar! Früher wurden möglichst alle Teile eines geschlachteten Tieres zu Gerichten verarbeitet. Heute werden Hühnerfüße und Schweineköpfe aus der EU nach Fernost oder Afrika verschifft, während hochwertige Lenden und Filets im Supermarkt landen. Lediglich zwischen 40 und 55 Prozent eines Nutztieres werden bei der industriellen Produktion verwendet. Einzelne Spitzenköche und Hofschlachtereien halten dagegen. Sie verwerten “von der Schnauze bis zum Schwanz” alles Eßbare. Für eine mineralstoffreiche Suppe werden Markknochen oder die Wirbel von Hühnern stundenlang ausgekocht, Nieren, Kuddeln, Pansen, Magen und Zunge längst nicht mehr zu Hundefutter verarbeitet.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Globale Massentierhaltung

    Die Weltbevölkerung wächst schnell, der Fleischkonsum noch schneller. Allein in China dürfte der Fleischverzehr von jetzt im Durchschnitt 63 Kilogramm pro Person bis 2030 um weitere 30 Kilo steigen. Massentierhaltung bringt immer mehr und immer billigeres Fleisch auf dem Markt. Der Preis: Wälder werden abgeholzt, um für Futterpflanzen Platz zu machen – mit Folgen für Klima und Artenvielfalt.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Weniger Fleisch essen

    Deutsche Verbraucher müssten ihren Fleischkonsum halbieren um eine gesunde Ernährung aus einer Tier- und Umweltfreundlichen Landwirtschaft zu beziehen. Kleinere Fleischportionen in Kantinen, Restaurants und Fertiggerichten könnten Signalwirkung haben. Auch ein CO2-Label für Fleisch könnte ein Umdenken fördern, ebenso wie eine “Tierschutzabgabe” zur Förderung artgerechter Tierhaltung.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Gülle-Einsatz eindämmen

    208 Millionen Kubikmeter Gülle und Jauche aus Massentierhaltung im In- und Ausland wurden 2017 auf deutschen Äckern und Weiden als Dünger verteilt. Die Folge: Die Nitrat-Konzentration im Grundwasser überschreitet den EU-Grenzwert zum Teil um das achtfache. Letztendlich zahlen die Verbraucher die höheren Kosten für die Trinkwasseraufbereitung. Nitrat reichert sich auch in Obst und Gemüse an.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Mehr Weide statt Stall

    “Flächenbindung” ist ein altes Konzept. Als Grundregel soll ein Betrieb nur so viele Tiere halten, wie die eigene Anbauflächen ernähren können. Die Ausscheidungen der Tiere können dann ohne Umweltschäden im landwirtschaftlichen Kreislauf als Dünger verwendet werden. Die Böden der Weideflächen dienen zudem als CO2-Speicher.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Label für gute Tierhaltung

    Verbraucher sollten wissen, woher ihr Fleisch kommt. Im aktuellen Fleischatlas fordern die Autoren eine Kennzeichnung über die Art der Tierhaltung mit Angaben über Futtermittel, Platzangebot und Haltung. Die Idee eines Tierschutzlabels könnte allerdings an fehlenden EU-Standards und Regelungen der Welthandelsorganisation (WTO) scheitern.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Alles verwerten

    Zwischen 40 und 55 Prozent eines geschlachteten Tieres gelten als “minderwertig” und finden in Deutschland keinen Platz in der Fleischtheke. Ein Teil wird exportiert, was wiederum Probleme auf den lokalen Märkten mit sich bringt. In Deutschland entdecken immer mehr Sterneköche Innereien wie Saumagen, Nieren oder Hirn neu. Das Ziel: Das ganze Tier direkt zu verwerten, ohne Abfall.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Kombihaltung

    Photovoltaik-Anlagen als Schafweide, Streuobstwiesen für Gänsemast und in der Obstplantage Hühner, die Schädlinge fressen und nebenbei die Wiese düngen und dazu noch Eier legen. Eine Win-Win-Situation: Für den Landwirt bedeutet die Kombihaltung ein extra Einkommen, für die Tiere ein artgerechteres Leben.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Die Alleskönner

    Das Fleisch von Turbo-Milchkühen und industriellen Legehennen lässt sich nicht verkaufen, männlicher Nachwuchs ist deshalb unrentabel. Es gibt aber Tierrassen, die sowohl Fleisch als auch Milch bzw. Eier produzieren. Viele Öko-Landwirte haben alte Nutztierrassen neu entdeckt – und bekommen einen guten Preis für Milch, Eier und Fleisch aus tierschutzgerechter Aufzucht.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Viele Regeln, wenig Kontrolle

    Die Haltung von Nutztieren ist durch EU-Vorschriften und das deutsche Tierschutzgesetz geregelt. Tiere müssen verhaltensgerecht und ohne Schmerzen und Leid gehalten werden. Eine Studie enthüllte jedoch, dass mehr als die Hälfte aller Tiere krank sind. Tierschützer fordern höhere Strafen, mehr staatliche Kontrollen und wollen ein Verbandsklagerecht für Tierschutzverbände einführen.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    Preiskampf im Einzelhandel

    Fünf Supermarktketten kontrollieren fast drei Viertel des Lebensmittelangebots in Deutschland. Oft diktiert der Einzelhandel die Preise und lockt mit Billigfleisch als Angebot der Woche. Stattdessen könnten die Marktführer ihre Marktmacht nutzen, um Tierschutz und artgerechte Tierhaltung zu fördern, so der Fleischatlas. Etwa mit unabhängig kontrollierten Kennzeichnungen für die Verbraucher.


  • Massentierhaltung- geht es ohne?

    EU-Förderung ändern

    In Deutschland gehen jährlich rund fünf Milliarden Euro an EU-Zuschüssen vor allem an Großbetriebe, weil die Förderung pro Hektar bezahlt wird. Die Autoren des Fleischatlases fordern eine Umschichtung der EU-Agrarhilfe auf kleinere und mittelgroße Betreibe und mehr Geld für Betriebe, die ihre Tiere art- und umweltgerecht halten.

    Autorin/Autor: Helle Jeppesen


Die komplette Verwertung mit Innereien, Knochen und Knorpel ist nicht nur von ökologischem und ökonomischem Nutzen: Sie bringt die Wertschätzung den getöteten Tieren gegenüber zum Ausdruck. Doch schon bald könnte das Fleisch aus dem Labor kommen: Längst werden Herzklappen und Hautgewebe durch Zellvervielfältigung und Gewebszüchtung erzeugt. Muskelstammzellen, die Tieren per Biopsie entnommen wurden, werden in vitro vermehrt, so dass sie Muskelzellen bilden, die zu Muskel- und Fleischfasern zusammenwachsen. Für einen Hamburger brauchten Wissenschaftler 20.000 solcher Fasern. Aber auch die Vielfalt vegetarischer Produkte als Fleischersatz steigt beständig.

Ohne Rindfleisch? Jawohl! So sieht ein vegetatischer Hamburger aus

Hühner als biologische Schädlingsbekämpfer

Weniger Zukunftsmusik, sondern längst umgesetzt wird der Beschluss der Bundesregierung von 2007 zur Förderung der Artenvielfalt. Mindestens zwei Prozent der Fläche Deutschlands sollen verwildern. Der Eingriff durch den Menschen reduziert sich auf ein notwendiges Maß. Durch die Haltung landwirtschaftlicher Huftiere entstehen dort offene und halboffene Landschaften mit Busch- und Baumstrukturen, auf der sich viele Arten wohlfühlen.

Streuobstbauern proben längst neue Formen der Beweidung. Sie halten ihre Tiere auf Obstwiesen, in Wäldern und sogar zwischen technischen Anlagen. Diese fressen Gras und Wildkräuter, was den Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln spart. Und Hühner sollen künftig mehr in Obstplantagen, Weinbergen und Baumschulen zur biologischen Schädlingsbekämpfung und Nährstoffversorgung eingesetzt werden, sofern die Gelände vor Füchsen und Hunden geschützt werden können. Das Geflügel frisst Schädlinge, und ihr mineralstoffreicher Kot wirkt düngend. Auf 50 Seiten liefert der Fleischatlas Rezepte für eine artgerechtere Tierhaltung und den bewussten Konsum tierischer Produkte.

Streicheleinheiten und genügend Platz für Kühe und Kalb

Die Umweltschützer raten den Deutschen zur Halbierung ihres Fleischkonsums und zur Reduzierung der Tierbestände – auch im Hinblick auf den Klimawandel. “Die Bundesregierung muss noch in diesem Jahr die Weichen für einen nachhaltigen Umbau der Tierhaltung stellen”, sagte Hubert Weiger, der BUND-Vorsitzende.