Nach einer Unterbrechung und Beratungen in kleinen Kreisen kommen die Staats- und Regierungschefs der EU zu einem Abendessen zusammen. Noch gibt es keine Annäherung. Aus Brüssel Bernd Riegert.
Merkel, Macron, Michel (v.l.n.r.): Absprachen am Rande des ersten persönlichen Gipfels nach Corona
“Es herrscht Abstand, großer Abstand, im wörtlichen Sinne als auch im übertragenden Sinne”, meint ein EU-Diplomat nach der ersten Aussprache beim EU-Sondergipfel zum Corona-Aufbaufonds und dem mehrjährigen EU-Haushalt. Die 27 Staats- und Regierungschefs sitzen weit auseinander im Sitzungssaal im Brüsseler Ratsgebäude, der normalerweise bis zu 300 Personen Platz bietet. Weit auseinander liegen auch noch die Positionen der Mitgliedsstaaten zum größten je von der EU verabschiedeten Finanzpaket, das der ständige Ratsvorsitzende Charles Michel auf den Tisch gelegt hat.
Sechs Stunden lang haben sich die Staats- und Regierungschefs gegenseitig die lange Liste von Bedenken, Interessen und Änderungswünschen vorgetragen. Dänemark ist das Volumen des Aufbaufonds von 750 Milliarden Euro zu groß. Finnland möchte höchstens 400 Milliarden Euro ausgeben. Italien und Spanien hingegen finden, 750 Milliarden Euro zur Überwindung der Corona-bedingten Wirtschaftskrise seien das absolute Minimum. Gleichzeitig soll der weitere 1,1 Billionen Euro umfassende EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre ausgehandelt werden.
Der Abstand der Sitze und der Meinungen ist gewaltig im Tagungssaal in Brüssel
In einer Reihe von bilateralen Gesprächen wollen der Vorsitzende der Gipfelrunde Charles Michel und die zeitweilige Vorsitzende des Rates, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Kompromisslinien ausloten. Danach sollen die Verhandlungen in großer Runde beim Abendessen am Freitagabend weitergehen. Merkel soll als Ratsvorsitzende vermitteln. Sie hat als erfahrene Vertreterin des größten Mitgliedslandes auch das meiste Geld zu verteilen. Deutschland müsste nach einer Berechnung der EU-Kommission vom Aufbaufonds 133 Milliarden Euro finanzieren. Deutschland sei bereit, sich einzubringen, sagt Merkel vor dem Gipfel: “Ich werde Charles Michel stark unter die Arme greifen.”
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Die sparsamen Niederländer
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Die sparsamen Niederländer
Merkel nicht sonderlich optimistisch
Ob es möglich sein wird, auch in den langen Verhandlungsnächten, die jetzt folgen werden, Abstand zu wahren, wird man sehen. Schließlich ist das “physische” Treffen anberaumt worden, damit man in kleiner Runde oder in intensiven Zwiegesprächen Kompromisse schmieden kann. “So richtig streiten kann man sich in Videokonferenzen eben nicht”, meint dazu ein EU-Diplomat, der mit der Vorbereitung des Gipfels beschäftigt war.
Angela Merkel gibt sich zurückhaltend: “Ich muss sagen, die Unterschiede sind noch sehr groß, und ich kann nicht sagen, ob wir bei diesem Mal schon zu einem Ergebnis kommen. Wünschenswert wäre es.”
In den nächsten Tagen stünden “sehr, sehr schwere Verhandlungen” bevor. Der Sondergipfel ist für zwei Tage angesetzt. Er könnte aber bis Montag verlängert werden, heißt es von EU-Diplomaten. Scheitert dieser Versuch, soll ein zweiter Sondergipfel noch im Juli folgen.
Die Nase ist zu frei, scheint Kanzlerin Merkel dem bulgarischen Premier Borissow zu sagen: Corona-Etikette beim EU-Gipfel
Der französische Präsident Emmanuel Macron, der zusammen mit Merkel einen Aufbaufonds für die Wirtschaft nach Corona im Wert von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen hat, gibt sich zuversichtlicher. “Wir müssen einen Kompromiss finden, und ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen”, sagt Macron bei seiner Ankunft in Brüssel. Dies sei “die Stunde der Wahrheit für unsere europäischen Ambitionen”, so der französische Präsident.
Auch die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, legt die Latte hoch. Angesichts der größten Wirtschaftskrise nach der Pandemie, die die EU je erlebt hat, betont sie: “Das Risiko könnte heute nicht größer sein, aber auch die Möglichkeiten. Es steht viel auf dem Spiel.” Die Menschen in Europa erwarteten Lösungen, so von der Leyen. “Die ganze Welt beobachtet Europa, ob wir in der Lage sind, gemeinsam aufzustehen und die Corona-bedingte Wirtschaftskrise zu überwinden.”
Heftiges Ringen um die Konjunkturspritze
Unter den 27 Mitgliedsstaaten haben sich verschiedene Lager gebildet, die für ihre Interessen streiten. Die Kunst besteht für die Vermittlerin Angela Merkel nun darin, das äußert komplexe Interessengeflecht zu entwirren. Die sogenannten “Sparsamen Vier”, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich, stellen die Konstruktion eines Aufbaufonds in Frage. Sie wollen weniger Zuschüsse und dafür mehr rückzahlbare Darlehen an die von Corona gebeutelten Staaten ausgeben.
Die potentiellen Empfänger lehnen das ab. Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte fordert Zuschüsse, weil die Staatsschulden seines Landes nicht weiter steigen dürften. “Der europäische Binnenmarkt muss geschützt werden”, sagt Conte und meint, dass alle Länder aus der Krise herauskommen müssen. Denn ohne ein gesundes Italien läuft auch wenig für die Exportindustrie in Österreich oder Deutschland.
Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis allerdings bezweifelt, dass es den Italienern und anderen Südländern wirklich so schlecht geht. Von den bereits zur Verfügung stehenden Hilfskrediten in Höhe von 240 Milliarden Euro sei keine einziger Cent abgerufen worden.
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Italien benötigt Hilfen aus Brüssel
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Italien benötigt Hilfen aus Brüssel
Die “Freunde der Kohäsion”, also Staaten die wie Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn oder Tschechien, die viel Geld aus Agrar- und Strukturfonds empfangen, wollen Kürzungen zugunsten von südlichen Staaten, die besonders unter Corona leiden, verhindern.
Die Corona-Opfer wiederum fordern hohe Zuschüsse ohne große Kontrollen. Diese Forderung bringt allerdings Niederländer, Österreicher und Luxemburger auf die Palme. “Wir können ja nicht einfach einen Blanko-Scheck ausstellen”, meint Luxemburgs Premier Xavier Bettel. Der niederländische Premier Mark Rutte verlangt, dass Zuschüsse für Projekte in Italien, Spanien oder Griechenland von allen Mitgliedsstaaten einstimmig genehmigt werden müssen. Rutte sagt, er müsse das schließlich auch irgendwie den niederländischen Steuerzahlern erklären können. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz weigert sich, “Länder mit kaputten Systemen” – gemeint ist wohl Italien – aus dem finanziellen Sumpf zu ziehen.
Budapest droht mit Veto
Am Ende muss ein Kompromiss stehen. Das ist allen Teilnehmern klar, denn Haushalt und Aufbaufonds müssen einstimmig verabschiedet werden. Danach muss das Europäische Parlament zustimmen, das auch noch eigene Vorschläge unterbringen will. Wegen der erstmaligen Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission ist zusätzlich die Ratifizierung in allen 27 Parlamenten der Mitgliedsstaaten nötig.
Österreichs Kanzler Kurz hat es nicht eilig: Der Zeitdruck lastet auf der anderen Seite
Da hilft es wenig, wenn ein nationales Parlament, nämlich das ungarische, schon jetzt mit einem Veto droht. Sollte die EU die Verfahren wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit gegen Ungarn nicht einstellen, werde der Haushalt blockiert, warnt das Parlament in Budapest. Der EU-Parlamentspräsident hat für die ungarische Haltung überhaupt kein Verständnis. “Die müssen verstehen, dass die EU kein Geldautomat ist”, kritisiert David Sassoli. Als Mitgliedsstaat der EU habe man auch Verpflichtungen. Eine davon sei eine rechtsstaatliche Ordnung.
Erfolgschancen “unter 50 Prozent”
“Wir müssen einfach hart arbeiten”, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Auftakt der Sitzung. Der niederländische Ministerpräsident glaubt nicht an einen Durchbruch bei diesem Sondergipfel. “Die Chancen liegen unter 50 Prozent”, sagt er. Österreichs Bundeskanzler Kurz meint nur: “Ich habe viel Zeit.” Italien, Spanien und andere potentielle Nutznießer des Aufbaufonds wollen hingegen eine schnelle Entscheidung, damit das Geld auch wirklich ab Januar 2021 fließen kann.