Kinderrechte: Viel erreicht – und viel zu tun

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Seit 30 Jahren garantiert eine UN-Konvention Kinderrechte, auch in Deutschland. Doch wie werden sie im Alltag umgesetzt? Besuche bei Kindern, die ihre Rechte kennen – und solchen, die hart um sie kämpfen müssen.

Der Pausenhof der Gottfried-Kinkel-Grundschule in Bonn-Oberkassel: Nach der Pause geht es gesittet ins Klassenzimmer

Wie Kugeln auf einem Billardtisch flitzen die Kinder von einer Ecke in die andere. Rot, grün, blau, rosa und gelb leuchten ihre Regenjacken vor dem nassen grauen Beton des Pausenhofs der Gottfried-Kinkel-Grundschule in Bonn-Oberkassel. Ein Junge hüpft in eine Pfütze, ein Mädchen steigt die Leiter zum Spielturm hinauf. Gelächter und laute Rufe hallen von den Gebäudemauern.

Als eine Klingel das Ende der Pause einläutet, ist es plötzlich ruhig. In Zweierreihen stellen die Kinder sich hinter den Lehrern auf – und marschieren in Reih und Glied in die Klassenräume. Kein Gezappel, kein Geschrei, preußische Disziplin in der Grundschule? “Die Kinder haben sich die Regeln selbst gesetzt”, sagt Klassenlehrerin Caroline Herzog. “Teilweise sind sie strenger als wir Lehrer.” Wer sich umdreht oder beim Gang nach drinnen laut wird, wird von den Mitschülern ermahnt und bekommt nach drei Verstößen einen Eintrag. Das hat der Klassenrat der 4c beschlossen.

Die Süßigkeiten-Abstimmung

Gefragt werden, mitentscheiden, sich selbst Regeln setzen: Das ist normal für die Kinder der Gottfried-Kinkel-Grundschule. Und das unterscheidet diese Schule von vielen anderen in Deutschland. Die Schüler hier sind als Streitschlichter im Einsatz, schreiben Protokoll im Klassenrat, lassen sich in ein Kinderparlament wählen.

“Eigentlich leiten wir die Schule ja fast”, sagt Moritz, 9 Jahre alt. “Nur manche Entscheidungen treffen noch die Lehrer. Vor zwei Wochen hatten wir eine sehr wichtige Süßigkeiten-Abstimmung im Kinderparlament. Wir haben entschieden, dass wir in Ausnahmefällen, etwa bei Geburtstagen, bei Klassenfahrten und ansonsten einmal die Woche Süßigkeiten in der Schule essen dürfen. Ich habe dafür gestimmt – Kinder brauchen auch Zucker, sonst schlafen sie ein.”

Eltern müssen nicht alles wissen

Durch die Schule kennen die Kinder ihre Rechte, die seit 30 Jahren auch in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen stehen. Dazu gehört auch das Recht auf eine eigene Meinung, wie es an der Grundschule mit seinen Klassenräten und dem Kinderparlament gelebt wird. Für die 9-jährige Hanna steht daneben das Recht auf Privatsphäre an oberster Stelle: “Die ist wichtig, wenn man ein Geheimnis über die Freundin des Bruders aufschreiben oder etwas anderes für sich behalten will”, sagt sie. “Eltern und Lehrer müssen nicht alles über die Kinder wissen.”

Kennen ihre Rechte: Viertklässler der Kinkel-Grundschule mit ihren Lehrerinnen Carolin Herzog (links) und Alexa Schmidt

Den Viertklässlern ist bewusst, dass Kinder anderswo nicht einmal das Recht auf Bildung oder gesunde Ernährung wahrnehmen können. Der 9-jährige Leon sagt: “Ja, es ist schon super hier. Aber wenn es bei uns noch mehr Kinderrechte gibt, kann man das vielleicht auch auf andere Länder übertragen.” Schülerin Mia ist dabei besonders wichtig, dass jedes Kind genug zu Essen hat. Viertklässlerin Friederike meint, dass alles dafür getan werden muss, dass kein Kind auf dieser Welt Gewalt erleben muss.

Idylle überall?

So kinderfreundlich die Situation an der Bonner Grundschule auch ist: Andernorts sind die Kinderrechte in Gefahr, wie die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen. Rund 50.400 Kinder waren in Deutschland im vergangenen Jahr von Gewalt und Vernachlässigung bedroht, zehn Prozent mehr als im Jahr davor. Kinderschutz-Organisationen warnen vor weiteren Rückschritten. Die lassen sich zum Beispiel in Berlin-Staaken beobachten, einem Ortsteil am westlichen Rand der Hauptstadt, von Medien auch als “sozialer Brennpunkt” betitelt. Hier reiht sich ein Mietshochhaus neben das nächste. Jedes dritte Kind lebt in Armut, seine Familie verfügt also über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens.

In Berlin-Staaken sind Arbeitslosigkeit und Armut höher als im Bundesdurchschnitt

In einer 100 Jahre alten Backsteinvilla findet man hier “Jona’s Haus”, ein Anlaufpunkt für Kinder und Jugendliche. Früher war in dem Gebäude eine Volksschule untergebracht. Die großen Räume und der weitläufige Garten bilden einen Kontrast zu dem Grau der Straßen. 

Voller Bauch und Hilfe beim Bewerben

In der Villa üben die siebenjährigen Schulfreunde Izra und Osama im großen Spielzimmer Radschlagen und Purzelbäume. Ein Zimmer weiter hilft Svetlana Nejelscaia einem Schüler mit der Bewerbung für sein Schülerpraktikum – Alltag in “Jona’s Haus”. Kinder aus der Nachbarschaft können 365 Tage im Jahr ein- und ausgehen, bekommen ein kostenfreies Mittagessen und Hilfe bei den Schulaufgaben. Betrieben wird die Einrichtung von der evangelischen Stiftung Jona.

Pädagogin Svetlana Nejelscaia hilft einem Schüler mit einer Bewerbung für ein Schülerpraktikum

Svetlana Nejelscaia, die pädagogische Leiterin in “Jona’s Haus”, kennt die oftmals schwierige Lage der Kinder vor Ort und sieht vor allem das Recht auf Bildung in Gefahr. Viele Kinder würden zwar regelmäßig die Schule besuchen, hätten aber trotzdem Schwierigkeiten, den Schulabschluss zu schaffen. Die Gründe sind vielschichtig: Manchmal hätten bereits die Eltern keinen höheren Bildungsabschluss oder würden unzureichend Deutsch sprechen. Sie hätten deshalb Schwierigkeiten, ihre Kinder bei den Schulaufgaben zu unterstützen. Ein Recht auf Ganztagsbetreuung auch für Schüler könne die Chancen für die Betroffenen verbessern, glaubt sie. 

Rechte, Pflichten, Handyverbote

Die Kinkel-Grundschule in Bonn ist solch eine “offene Ganztagsschule” mit Ganztagsbetreuung. Das heißt, die Kinder können hier auch zu Mittag essen und werden am Nachmittag betreut. Und: “Die Kinder übernehmen hier viel Verantwortung”, sagt Alexa Schmidt, die ebenfalls die Viertklässler unterrichtet. “Sie finden gute Lösungen.” So etwa, als vor einer Klassenfahrt Eltern darüber stritten, ob die Schüler ihre Handys mitnehmen dürfen, um im Notfall erreichbar zu sein – oder eben nicht. Die Lehrerin gab die Frage weiter an den Klassenrat. “Innerhalb von fünf Minuten hatten die Kinder einen Kompromiss gefunden.” Einige besonders ängstliche Kinder durften ihre Handys mitnehmen, die Geräte blieben jedoch ausgeschaltet.

Wunsch und Wirklichkeit klaffen noch auseinander

Die Lehrkraft freut sich, dass Kinderrechte in Deutschland bald im Grundgesetz verankert sein sollen. “Und ich würde mich freuen, wenn die Kinderrechte auch endlich in den verbindlichen Lehrplan aufgenommen werden, so wie das Einmaleins”, sagt Schmidt. “Kein Kind soll die Grundschule verlassen, ohne seine Rechte zu kennen.  Denn erst wenn ich meine Rechte kenne, kann ich sie einfordern.”

Kinder an die Macht?

Die Schülerinnen und Schüler der Bonner Grundschule kennen ihre Rechte gut. Aber, sagt Schülerin Hanna: “Kinder haben auch Pflichten. Kinderrechte bedeuten ja nicht, dass wir nicht mehr unser Zimmer aufräumen müssen. Nein, wir haben Pflichten, wir müssen in die Schule, wir müssen Hausaufgaben machen. Das gehört zur Bildung dazu.” Und die Schule ganz übernehmen, auf Lehrer und Erwachsene verzichten? Das wollen sie nicht, da sind sich die Viertklässler einig. In der Pause immer nur Aufsicht und kein Flitzen, Rennen, Toben mehr – das wäre dann auch nicht kindgerecht.