Raus aus der Verletzungsfalle

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Vergeben heißt nicht vergessen! Der Buß- und Bettag der evangelischen Kirchen hält das Thema wach und zeigt Wege aus der Schuld- und Verletzungsfalle.

Opfer und Täterin zugleich  

„Ich fahre jetzt nach Hause.“ Die Stimme ihrer Mutter klingt vorwurfsvoll. In Lara regt sich das ewig schlechte Gewissen. Sie fühlt sich schuldig. Obwohl sie gar nichts getan hat – außer: Ihren Vater auch zu ihrem vierzigsten Geburtstag einzuladen. Der ist überraschenderweise gekommen. Damit war nicht zu rechnen. Meist blieb er Familienfesten fern. Oder war gar nicht eingeladen. Denn alle wussten: Laras Mutter und ihr geschiedener Mann an einem Tisch – das geht nicht. Das kann man Laras Mutter nicht zumuten. „Ich verzeihe ihm nicht“, sagt sie immer, wenn die Rede auf ihren Ex-Mann kommt. „Nicht nach all dem, was er mir angetan hat. Ihr Kinder, ihr könnt ja Kontakt halten. Es ist schließlich euer Vater. Oder vielmehr: Euer Erzeuger.“ Die letzten Worte sind dann meist von höhnischem Lachen begleitet. Lara und ihr Bruder haben sie oft gehört. Schon als Kinder.

Viele Kinder, deren Eltern sich scheiden lassen, erleben das: Ein Elternteil spricht dem anderen das Elternsein ab. Lara hatte immer auf der Seite ihrer Mutter gestanden. Klar, ihr Vater war meist abwesend. Kam oft erst spät nachts oder am frühen Morgen nach Hause, alkoholisiert, schlief lang, man konnte sich nicht auf ihn verlassen. Und doch: Wenn er da war, war es oft lustig. Er brachte alle zum Lachen. Alle – bis auf Laras Mutter: Denn die Witze gingen oft auf ihre Kosten. Lara schämte sich, dass sie mitlachte. Aber es war doch auch schön, mal über die strenge Mutter lachen zu können.

Heute weiß Lara, dass ihre Mutter versucht hatte, aus ihnen gute und lebenstaugliche Erwachsene zu machen. Lara wusste auch: Mama geht es nicht gut. Sie leidet. Und wir sind schuld. Wenn wir nicht wären, sie hätte Papa längst verlassen können.

Den gordischen Knoten lösen

Zerrissen und verwirrt. So fühlt man sich, wenn man zwischen Opfer- und Tätersein, zwischen verletzt werden und selbst verletzen und schuldig werden steht. Wie nun das Knäuel von Schuld und Verletzung sortieren und in Versöhnung verwandeln? Versöhnung, die Schuld weiterhin Schuld nennt und den Schaden ernst nimmt, den sie angerichtet hat. Denn solche Erlebnisse vergisst die Seele nicht. Das ist in Ordnung. Auch die damit verbundenen Gefühle bleiben und dürfen bleiben. „Verzeihen heißt nicht, diese Gefühle nicht mehr zu haben. Verzeihen heißt, dem Mitmenschen trotz der schmerzlichen Erinnerung und trotz der schmerzlichen Gefühle keine Vorwürfe mehr zu machen.“, sagte der Psychologe und Theologe Martin Odermatt.
Und zugleich gibt es niemanden, der nicht selbst schuldig wird. Wie diesen gordischen Knoten durchtrennen? Klar ist: Nicht zu vergeben heißt, ich verletze mich selbst. Ewiger Zorn zerstört mich selbst. Wie gut wäre es, wenn Lara und ihre Mutter offen sprechen könnten. Über ihre Verletzungen. Vergeben heißt Beziehung neu gestalten. Die von Mutter und Tochter. Die aneinander schuldig wurden und werden. Vielleicht machen sie die Erfahrung, die in einem Psalm der Bibel beschrieben wird: „Doch endlich gestand ich dir, mein Gott, meine Sünde und gab es auf, sie zu verbergen. Ich sagte: `Ich will dem Herrn meine Auflehnung bekennen.` Und du hast mir vergeben und meine Schuld weggenommen!“ (Psalm 32,5)

Ein solches Gebet hilft auch da, wo die Versöhnung nicht im Außen gelingen kann. Zum Beispiel zwischen Laras Mutter und ihrem Vater. Laras Mutter könnte ihr Inneres sortieren und versuchen, den ewigen Zorn loszulassen. Das vor Jahrzehnten erlittene Unrecht selbst so ernst zu nehmen, dass sie es nicht immer und immer wieder von anderen einfordern muss. Und das Leben unter einen neuen Stern zu stellen.