Iranische Gesundheitsexperten contra Regierung

0
326

Irans Gesundheitsexperten sind mit Blick auf den Winter pessimistisch, ob die Corona-Pandemie unter Kontrolle gebracht werden kann. Selbstbedienung der Politiker bei Grippe-Impfstoffen sorgt für zusätzlichen Ärger.

“Wir müssen uns auf die dritte Welle der Corona-Pandemie einstellen”, warnte vor einer Woche der stellvertretende iranische Gesundheitsminister Iradsch Harirtschi in einer Kabinettssitzung. Laut offiziellen Angaben wurden in den vergangenen zehn Tagen im Durchschnitt täglich 3500 Neuinfektionen und bis zu 200 Verstorbene im Zusammenhang mit Covid-19 registriert. Dabei glaubt kaum jemand im Iran, dass die offiziellen Angaben das wahre Ausmaß widerspiegeln.

Differenzen zwischen Krisenstab und Kabinett

Vor einem Monat hatte der Epidemiologe Aliresa Mahboubfar gegenüber der Wirtschaftszeitung “Dschahan Sanat” erklärt, dass die tatsächliche Anzahl der Covid-19-Erkrankten und der Todesfälle um das Zwanzigfache höher wäre als offiziell angegeben. Mahboubfars Wort hat Gewicht: Er gehört dem Corona-Krisenstab der iranischen Regierung an. “Die Zahlen werden nach unten korrigiert, vor allem weil man die Bürger beruhigen will. Aber so werden wir aus der Pandemie nicht herauskommen”, prophezeite der Experte. “Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Krisenstab und dem Kabinett sind ernst. Ich glaube, wir müssen die Menschen aufklären.”

Einen Tag nach der Veröffentlichung dieses Interviews unter dem Titel “Wir vertrauen keinen Regierungsstatistiken” wurde die Wirtschaftszeitung von den Behörden geschlossen. Gleichzeitig bestritt das Gesundheitsministerium, das die Zeitung verklagt hatte, sogar die Mitgliedschaft des in iranischen Medien häufig zitierten Epidemiologen Mahboubfar im Corona-Krisenstab.


  • Iran: Trauma und Depression

    Psychologen schlagen Alarm

    Irans Gesundheitsminister warnte im Dezember 2019 vor den hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten psychischer Krankheiten im Iran. Der Verein der iranischen Psychologen schätzte, dass ein Viertel der Bevölkerung unter Depression leide. Das amerikanische Cato-Institut sah Iran 2019 als das drittunglücklichste Land der Welt. Inzwischen kam die Pandemie hinzu.


  • Iran: Trauma und Depression

    Mehr Krankenhausbetten benötigt

    “Das ganze Land ist auf Stufe Rot, nirgendwo ist man mehr sicher vor dem Coronavirus”, warnte Irans stellvertretender Gesundheitsminister am 18. September. Um auf einen weiteren Anstieg der Fälle im Winter vorbereiten zu sein, versuche das Gesundheitsministerium zusätzliche 10.000 Krankenhausbetten bereitzustellen.


  • Iran: Trauma und Depression

    Leugnen und beschwichtigen

    Am Anfang wurde die rasche Ausbreitung des Virus verschwiegen. Trotz steigender Fallzahlen versuchte die Regierung im Juni zur “Normalität” zurückzukehren und lockerte die Beschränkungen. Präsident Hassan Rohani forderte Kritiker und Medien auf, die Gesellschaft nicht mehr “psychisch zu belasten”.


  • Iran: Trauma und Depression

    Gesellschaft unter Stress

    Zur Bedrohung durch das Virus kommt die Angst vor steigender Arbeitslosigkeit. Zwei Millionen Arbeitsplätze wurden nach offiziellen Angaben bisher vernichtet. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass die iranische Wirtschaft in diesem Jahr um sechs Prozent schrumpfen wird.


  • Iran: Trauma und Depression

    Teuerung und Mangelversorgung

    Der Preis für Kartoffeln hat sich vervierfacht, Tomaten sind heute 140 Prozent teurer als vor einem Jahr. Importierte Medikamente sind wegen der US-Sanktionen Mangelware.


  • Iran: Trauma und Depression

    Volkswut nach Benzinpreiserhöhung

    Wegen knapper Finanzen hatte die Führung in Teheran im November die Kraftstoff-Subventionen gekürzt. Landesweite Proteste waren die Folge, die brutal niedergeschlagen wurden. Laut Amnesty International wurden mehr als 300 Demonstrierende getötet und Tausende festgenommen.


  • Iran: Trauma und Depression

    Kriegsangst

    Am 3. Januar wurde Kassem Soleimani im Irak von einer Drohne der Amerikaner getötet. Soleimani war der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden. Angst vor dem Ausbruch eines Krieges zwischen Iran und USA lag in der Luft.


  • Iran: Trauma und Depression

    Tragischer Irrtum

    Am 8. Januar schoss das iranische Militär versehentlich eine ukrainische Passagiermaschine kurz nach dem Start in Teheran ab. Unter den 176 Passagieren, von denen keiner überlebte, waren auch viele Iraner.


  • Iran: Trauma und Depression

    “Unser Feind ist hier”

    Drei Tage lang leugnen Regierung und Militär die Verantwortung für das Unglück. Wütende Demonstranten fordern in mehreren Städten den Rücktritt führender Politiker. “Sie lügen, wenn sie sagen, unser Feind ist Amerika. Unser Feind ist hier”, skandieren sie.


  • Iran: Trauma und Depression

    Angehörige fordern Genugtuung

    Unter den Todesopfern des Flugzeugunglücks waren 139 Iraner, viele davon Auswanderer. “Aber hätten nicht so viele Opfer auch die kanadische Staatsbürgerschaft gehabt und hätte Kanada nicht deswegen so viel Druck ausgeübt, hätten wir die Wahrheit wohl nie erfahren”, vermuten viele Iraner bis heute.


  • Iran: Trauma und Depression

    Neujahrsfest fiel aus

    Wenige Wochen nach dem Schock des Flugzeugkatastrophe erreichte die Pandemie den Iran. Die einzige Gelegenheit, kollektive Freude zu empfinden, musste ausfallen: das iranische Neujahrsfest Nowruz. Um das Virus einzudämmen forderte die Regierung alle Bürger auf, zu Hause zu bleiben und auf soziale Kontakte zu verzichten.


  • Iran: Trauma und Depression

    Wirkungslose Solidarität

    Der Ringer Navid Afkari wurde am 12.September wegen eines nicht bewiesenen Mordes hingerichtet, trotz zahlreicher offener Briefe und internationaler Forderungen, das Urteil zu überprüfen. “Von einer kollektiven Trauer stolpern wir in die nächste”, schreiben iranische User resigniert in sozialen Netzwerken.

    Autorin/Autor: Shabnam von Hein


Krankenhäuser am Limit

Fünf Wochen später warnen jetzt Experten vor einem Kollaps des Gesundheitssystems. “Für uns geht es nicht mehr um eine zweite oder dritte Welle. Wir stecken in einer Dauerpandemie und haben einen harten Kampf vor uns”, sagte Abbasali Karimi, Leiter der Teheran-Universität für Medizinische Wissenschaften und Gesundheitsdienste erst gestern vor seinen Studenten.

“Viele Krankenhäuser haben ihre Aufnahmekapazitäten erschöpft”, bestätigt der Arzt Hadi Yazdani aus Isfahan im Gespräch mit der DW. “Ich weiß, dass viele Patienten nicht aufgenommen und einfach nach Hause geschickt werden. Sie tauchen in den Statistiken nicht auf.”

Seit Juni berichten die iranischen Medien immer wieder von verzweifelten Menschen, die Kredite aufnehmen müssen, um in privaten Krankenhäusern doch noch einen Platz für erkrankte Familienmitglieder zu bekommen. Anfang August forderte der Abgeordnete Mohsen Fathi, der im Gesundheitsausschuss sitzt, dass die Regierung bedürftige Haushalte in der Gesundheitskrise finanziell stärker unterstützen solle.

Maskenhändler in Teheran

Teure Medikamente

Die Probleme für den ärmeren Teil der Bevölkerung werden noch dadurch verstärkt, dass die staatliche Krankenversicherung viele Kosten nicht übernimmt. So müssen anti-virale Medikamente wie Remdesivir oder Favipiravir – letzteres ist das das chinesische Nachahmerpräparat des japanischen Mittels Avigan – aus eigener Tasche bezahlt werden. Für sie hat sich im Iran ein florierender Schwarzmarkt entwickelt, wie lokale Medien berichten und auch Hadi Yazdani bestätigt.

“Trotz der Berichte über die Wirksamkeit dieser Medikamente am Anfang der Pandemie wurden sie von der Liste des Corona-Krisenstabs zur Behandlung der Corona-Patienten entfernt. Ich glaube, weil diese Medikamente weder in genügender Menge importiert noch im Iran produziert werden können”, vermutet der Arzt Yazdani im Gespräch mit der DW und fügt hinzu: “Ich weiß aber, dass manche Krankenhäuser immer noch Favipiravir einsetzten. Soweit ich weiß, aber nur für bestimmte Patienten.”

Überfüllte Krankenhäuser im Iran

Politiker bevorzugt?

Bei diesen “bestimmte Patienten” handele es sich um Politiker und Patienten aus einflussreichen Kreisen, erklärte der ehemalige Abgeordnete Mahmoud Sadeghi diese Woche im Gespräch mit der Nachrichtenagentur ILNA. “20.000 Favipiravir-Tabletten, die China dem Iran geschenkt hat, wurden heimlich importiert und für die Behandlung hochrangiger Funktionäre eingesetzt”, behauptete Sadeghi.

Favipiravir habe keine positive Wirkung und verschlimmere sogar die Krankheit, erklärt dagegen Ende Juli der Leiter des Corona-Krisenstabs, Mostafa Ghanei. Tatsächlich wird Avigan bereits in Japan und vielen anderen Ländern als Notfall-Medikament bei einer schweren Covid-19 Erkrankung benutzt. In Deutschland ist das Medikament mit starken Nebenwirkungen bislang nicht zugelassen.

Nicht nur Medikamente, offenbar auch Impfstoffe werden zuerst für Politiker reserviert. In einem offenen Brief an Vizepräsident Eshaq Dschahangiri beschwerte sich der Leiter der Zulassungsbehörde für die Angehörigen der Gesundheitsberufe im Iran, Abbas Aghazadeh, dass, wie iranische Medien berichtet hatten, 1500 Grippe-Impfdosen für die Parlamentarier reserviert wurden, die woanders fehlen würden. Das iranische Parlament hat 290 Abgeordnete.