Geschichte in Serie: Die Wendezeit bei Netflix und Amazon

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Zum 30. Jubiläum der Wiedervereinigung bringen Netflix und Amazon mit “Rohwedder” und “Deutschland 89” Stoffe zur Wendezeit – dokumentarisch und fiktiv.

In Amazons “Deutschland”-Reihe neigt sich die DDR ihrem Ende entgegen

Es geht weiter – und rasant auf das Ende zu. Seit 2015 kämpft Jonas Nay alias Martin Rauch als Agent wider Willen mit dem unaufhaltsamen Ende der DDR und seiner opportunistischen Tante Lenora, die von der gerade mit dem Emmy prämierten Maria Schrader verkörpert wird.

Pünktlich zum 30. Jubiläum der Wiedervereinigung startet die Streamingplattform Amazon Prime ab dem 25. September mit “Deutschland 89” die Fortsetzung der Staffeln “83” und “86”. Erneut sind also drei Jahre vergangen, in denen die DDR ihre Devisenprobleme nicht hat lösen können. So viel ist vorab mit Blick auf das Jahr klar: Martin Rauch steuert auf sein letztes deutsch-deutsches Abenteuer zu.

Fiktive Stoffe, die in ein historisch reales Setting eingebettet werden, haben sich in den vergangenen Jahren etabliert und als Verkaufsschlager bewährt. Fast beiläufig vermittelt die historische Fiktion auf unterhaltsame Weise auch geschichtliche Zusammenhänge. Serien wie “Babylon Berlin” vor der Kulisse der zerbrechenden Weimarer Republik oder die im Ostberlin der 1980er Jahre verortete Serie “Weissensee” feiern national wie international große Erfolge.

Doku-Fiktion: “Die Getriebenen” rekonstruierte die Stunden vor der Entscheidung, Flüchtlinge aus Ungarn in Deutschland aufzunehmen.

Geschichte binnen Sekunden

Die filmische Darstellung kann beim Zuschauer binnen Sekunden Bilder einer vergangenen Epoche erzeugen, durch Kulissen, Kleidung und Mimik unmittelbar eine Atmosphäre schaffen, die in Buchform der Fantasie überlassen bleibt und historisch weniger präzise sein kann.

Auch auf dem US-Markt gibt es zahlreiche entsprechende Formate, die Eindrücke aus Zeiten des Kalten Krieges (“The Americans”) oder Amerikas Kampf gegen den Terror (“Homeland”) wiedergeben. Gut recherchiert, verbinden die Formate fiktive Charaktere als Projektionsfläche der Zuschauer mit real-historischen Entscheidungsprozessen: Während sich die politische Situation zuspitzt, müssen die Protagonisten individuelle Entscheidungen treffen.

Dafür muss man in der Geschichte gar nicht weit zurückgehen: Der ARD-Film “Die Getriebenen” nach der gleichnamigen Buchvorlage rekonstruierte ebenso wie der ZDF-Film “Stunden der Entscheidung” die Entwicklung vor Angela Merkels Entschluss, im September 2015 Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen. Das Problem am Mischformat der Doku-Fiktion: Sie scheint einen Blick hinter die Kulissen zu geben, vermengt aber Fakten mit Interpretation – und spitzt zu.

Die Netflix-Reihe “Rohwedder” lässt Zeitzeugen über die Ermordung des Treuhandchefs Detlev Rohwedder zu Wort kommen.

Klingt spannend: True Crime

Je realer das Format, desto größer der Anspruch auf Genauigkeit. Ebenfalls ab dem 25. September veröffentlicht Netflix mit seiner ersten deutschen Doku-Produktion einen Beitrag zur deutsch-deutschen Geschichte der Wendezeit. Die vierteilige Reihe “Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit” verhandelt die bis heute nicht aufgeklärte Ermordung des damaligen Treuhandchefs Detlev Rohwedder. Aufgabe der Treuhandanstalt war es, die volkseigenen Betriebe der DDR in die Marktwirtschaft zu überführen.

Weil auch das klassische Doku-Format heute gern unterhaltende Elemente bieten darf, wird die Produktion mit einem Spannung versprechenden Prädikat beworben: “True Crime”. Der Vorspann erinnert tatsächlich eher an die Krimiserie “4 Blocks” als an altbackene Doku-Formate. Die rekonstruierten Spielszenen, die sich mit Zeitzeugen-Interviews abwechseln, wirken dagegen wie die filmisch nachgestellten Szenen ungeklärter Kriminalfälle in der Fahndungssendung “Aktenzeichen XY… ungelöst”.

In “Rohwedder” greifen die Autoren die undurchsichtige Gemengelage auf: Die dritte Generation der RAF hatte sich 1991 angeblich zu der Tat bekannt, allerdings gibt es bis heute Zweifel an ihrer Täterschaft. Aufgrund der militärisch präzisen Ausführung verbreitete sich auch die These, dass über den Zusammenbruch der DDR hinaus intakte Seilschaften der Stasi das Attentat verübten, womöglich weil Rohwedder dem von der Stasi versteckten Vermögen auf der Spur war.

Ein BKA-Ermittler steht in in der Netflix-Doku “Rohwedder” vor einem vermeintlichen Bekennerschreiben der RAF

Zutaten eines Thrillers

Das Format lebt von den mysteriösen Umständen – Terroristen oder ein Geheimdienst, das sind Zutaten eines Thrillers. Auch die westdeutsche Politik und das Kapital waren an den wirtschaftlichen Überbleibseln der DDR interessiert, während Rohwedder für die rund 15.000 vor der Pleite stehenden Unternehmen einen Sanierungsansatz verfolgte. Nach seinem Tod wurden sie privatisiert und dienten Investoren als lukrative Kapitalanlage.

Je realer das Format, desto größer auch der Anspruch auf Konfrontation: Starke Vorwürfe, Detlev Rohwedder sei trotz einer hohen Gefährdungslage nicht ausreichend geschützt worden, werden erhoben. Protagonisten, die dafür in Politik wie in den Behörden Verantwortung trugen, werden dazu aber nicht befragt.

Mit “Rohwedder” geht Netflix ein gewisses Risiko ein: Wird dieser Fall auf internationales Interesse stoßen, wie es bei den Eigenproduktionen eigentlich Voraussetzung ist? Amazon scheint mit dem fiktiven Stoff dagegen auf der sicheren Seite zu stehen: “Deutschland 83” erhielt den International Emmy Award als beste Dramaserie.