“La Alemana” – deutsche Apothekerin hilft in Argentinien

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Villa Zagala ist eines der vielen Armenviertel in der Metropole Buenos Aires. Schon vor der Corona-Krise fühlten sich viele Menschen dort im Stich gelassen. Nur gut, dass sie sich auf Carina Vetye-Maler verlassen können.

“Es ist belastend, wenn man weiß, was die Menschen benötigen, aber das Geld nicht dafür ausreicht” – Carina Vetye-Maler

Vielleicht ist Villa Zagala genau der Ort, an dem man am besten erklären kann, wie es den einst so stolzen Porteños, den Bewohnern von Buenos Aires, mit der Wirtschafts- und der Corona-Krise geht. Oder besser: woran es an allen Ecken und Enden mangelt. Im Nordwesten der Metropole von Buenos Aires hausen Zehntausende Menschen in Blechhütten auf engstem Raum, nur einige Kilometer entfernt vom Szene-Stadtteil Palermo, wo der große argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges wohnte, und dem Friedhof Recoleta, der letzten Ruhestätte des “Engels der Armen”, der früheren Präsidentengattin Evita Perón.

Die neuen Engel der Armen arbeiten im Gesundheitszentrum Nr. 16 in Villa Zagala, auch wenn sie diese Bezeichnung wahrscheinlich weit von sich weisen würden. Lucía Morales zum Beispiel, die seit 17 Jahren hier die Hilfsbedürftigen impft, so ganz nebenbei, neben ihrem Job als Krankenschwester bei der Stadt. “Der Staat, die Provinz und die Stadt schicken ja jeden Monat Medikamente”, sagt sie, “aber die reichen hinten und vorne nicht. Die Armut wächst hier jeden Tag und damit auch die Zahl der Kranken.”

Armut steigt in Argentinien rapide an

Sechs von zehn Argentiniern werden bis zum Jahresende in Armut leben, schätzen die Vereinten Nationen, über acht Millionen Kinder und Jugendliche. Die Mittelschicht bröckelt, wegen der Wirtschaftskrise und durch Corona haben Tausende Facharbeiter und Kleinunternehmer ihre Jobs verloren, konnten Rechnungen und Miete nicht mehr bezahlen, und leben jetzt in “villas miserias” wie Villa Zagala. Sie holen ihre Medizin nun auch im Gesundheitszentrum Nr. 16 mit eingebauter Apotheke, das ein Einzugsgebiet von 30.000 Personen hat. Das ist in etwa so, als gebe es in einer deutschen Kleinstadt wie Ennepetal nur eine einzige Anlaufstelle für Kranke.

“Die Menschen sind wegen der Pandemie sehr verstört. Wir sind immer da und geben ihnen die Ruhe, die sie brauchen” – Lucía Morales

“Wenn es uns nicht geben würde, wäre das hier das absolute Chaos”, erklärt Morales, “die Patienten erhalten von uns ja nicht nur die auf sie persönlich abgestimmten Medikamente, sondern sie werden auch beraten und als Menschen ernst genommen.” Vor allem wegen der Corona-Krise seien die Leute sehr beunruhigt, es gab bereits einen sehr großen Ausbruch in Villa Zagala. Und so liegt die ganze gesundheitliche Verantwortung für Zehntausende Menschen auf den systemrelevanten Schultern von Lucía Morales. Und auf denen von Carina Vetye-Maler.

Apotheken-Projekt wird zum Langstreckenlauf

“Wer in Armenvierteln arbeitet, muss einen sehr langen Atem haben. Das ist kein 100-Meter-Sprint, das ist eher ein Ultra-Marathon oder ein 500-Kilometer-Lauf”, sagt die deutsche Apothekerin. Und wer wüsste das besser als sie. Seit 2002, kurz nach dem Höhepunkt der argentinischen Wirtschaftskrise, stemmt Vetye-Maler das Projekt der pharmazeutischen Entwicklungszusammenarbeit von “Apotheker ohne Grenzen.”

Als sie vom Vorsitzenden der Organisation im Frühjahr 2002 gefragt wird, ob sie sich vorstellen könne, ein Projekt in Argentinien zu starten, muss Vetye-Maler nicht lange nachdenken. Sie besitzt beide Staatsbürgerschaften und ist in Argentinien groß geworden, höchste Zeit also, ihrem Geburtsland etwas zurückzugeben.

Vetye-Maler, die sich als Brückenbauerin zwischen Argentinien und Deutschland versteht, zieht im Rekordtempo eine zwölf Quadratmeter große Apotheke im Gesundheitszentrum hoch, kauft mit Spendengeldern Medikamente ein, die dem Gesundheitszentrum fehlen und schult einheimisches Personal.

Behandlung von akuten Notfällen und chronischen Erkrankungen

“Durch uns gibt es zum ersten Mal hier eine stabile, zuverlässige Arzneimittelversorgung”, sagt “La Alemana”, wie sie in Villa Zagala liebevoll genannt wird. Was in Deutschland selbstverständlich ist, sei es in Argentinien ganz und gar nicht. “Zugang zu den richtigen Arzneimitteln zu bieten, ist ein sehr leicht gesagter Satz, aber dahinter steckt Knochenarbeit”, erklärt die Apothekerin. Damit meint sie vor allem die chronischen Erkrankungen, nicht etwa die Notfälle.

“Die Menschen hier in Villa Zagala haben sehr viel Angst und Sorgen, auch wegen des Arbeitsplatz- und des Einkommensverlustes” – Carina Vetye-Maler

Denn zu ihr kommen nicht nur die Kinder, die von einem Hund gebissen wurden, die Jugendlichen mit den Zahninfektionen oder die Erwachsenen, die an Krätze leiden, sondern auch die Langzeitpatienten. “Wir haben Patienten mit Diabetes, die jetzt vernünftig eingestellt sind, wir haben Patienten mit zu hohem Blutdruck, die ihre Werte kontrollieren können und eine Lungenentzündung, die behandelt wird und sich nicht verschlechtert. Aber die Finanzierung reicht nie, und sie reicht auch jetzt nicht.”

Corona-Krise kommt, Vetye-Maler bleibt

Die 55-Jährige lebt für die Menschen in ihrem “barrio”, ihrem Stadtteil, steckt jede freie Sekunde in ihr Herzensprojekt und zahlte auch schon mal Flüge aus eigener Tasche, als sie noch nicht fest bei Apotheker ohne Grenzen angestellt war. Aber seit einem halben Jahr stößt auch sie an ihre Grenzen.

Am 20. März fährt Argentinien komplett herunter, Lockdown wegen Corona, Entwicklungshilfeorganisationen aus ganz Lateinamerika holen viele ihrer deutschen Mitarbeiter in letzter Sekunde nach Hause. Und Vetye-Maler? Muss keine Sekunde überlegen. Und bleibt. “Ich bin Apothekerin, ich liebe meine Arbeit und ich will meine Patienten nicht unversorgt lassen. Ich kann das Projekt ja nicht in der übelsten Zeit verlassen, das geht einfach nicht.”

Keine weitere Verlängerung der Corona-Quarantäne forderten diese Demonstranten am Wochenende in Buenos Aires

Seitdem schuftet die Deutsch-Argentinierin für drei oder für noch mehr. Die sechs ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen in der Apotheke schickt sie alle nach Hause, weil diese alle Rentnerinnen und um die 80 Jahre alt sind und damit zur Risikogruppe gehören. Vetye-Maler ist nun fast allein –  nur noch zwei Teilzeitangestellte von “Apotheker ohne Grenzen”, die beide aber keine pharmazeutischen Kenntnisse haben, unterstützen sie.

Durch Corona an der Schmerzgrenze

Gleichzeitig schlägt das Virus in Villa Zagala unbarmherzig zu. “Mitte September hatten wir das Gefühl, dass sich alle infiziert haben. Bei den Tests waren ungefähr 60 Prozent positiv. Und im Gesundheitszentrum hat sich ein Viertel der Mitarbeiter infiziert.” “Apotheker ohne Grenzen” betreut alle Familien mit positiven Corona-Tests, die in ihren Blechhütten bleiben müssen – 70 Anrufe pro Tag. Vetye-Maler geht außerdem von Tür zu Tür und bringt den Menschen ihre Medikamente vorbei.

Die Frau, die jetzt ganz entspannt in einem Biergarten im Englischen Garten in ihrer zweiten Heimat München sitzen könnte, ist lieber weiter 14 Stunden am Tag für ihre Patienten da. Vetye-Malers Job wird in Zukunft nicht leichter: Trotz des längsten Lockdowns der Welt bekommt Argentinien die Corona-Pandemie nicht in den Griff, mehr als 11.600 Menschen sind schon an den Folgen des Virus gestorben.

Und ihre Arbeit wird auch nicht ungefährlicher: Vor ein paar Tagen sind gleich um die Ecke der Apotheke vier junge Männer bei einer Auseinandersetzung erschossen worden. Ganz egal, sagt die Apothekerin, solange ihr Team gesund bleibt: “Ich wünsche mir, dass niemand von uns übel erkrankt oder gar stirbt. Im nahe gelegenen Krankenhaus ist ein Mitarbeiter der Krankenhausküche gestorben. Er war noch im August bei uns im Gesundheitszentrum.”