Staatssicherheit, Lustration und Mafia-Staat

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Seit einem Monat dauern die Proteste in Bulgarien gegen die Regierung an. Korruption und alte Netzwerke haben das Land fest im Griff. Rufe nach Lustration werden laut. Eine Analyse von Christopher Nehring.

Sofia: Demonstranten fordern den Rücktritt der Regierung Borissow

“Lustration! Wir fordern den Ausschluss ehemaliger Mitglieder der Bulgarischen Kommunistischen Partei BKP, von Agenten der ehemaligen Staatssicherheit und aller ehemaligen kommunistischen Eliten aus Politik und Gesellschaft!” Fast 30 Tage dauern die Proteste gegen die bulgarische Regierung an, nun werden Rufe wie dieser der Organisation “BOETZ” nach einer “Lustration” lauter. Und auch der ehemalige Vorsitzende der Stasi-Unterlagenkommission von 2001, Metodi Andreev, nennt in einem Interview mit “Radio Plovdiv” die fehlende Lustration als Ursache für den “Mafia-Staat”.

Lustration – was ist das?

Lustration (vom Lateinischen lustrare, “hell machen” oder “reinigen”) meint die systematische Entfernung politisch belasteter Personen aus öffentlichen Ämtern.  Dafür gibt es nur wenig historische Beispiele: der – alsbald aufgehobene – Ausschluss ehemaliger Nationalsozialisten von Ämtern in Deutschland nach 1945; oder das 1990 erlassene Verbot für Angehörige der DDR-Geheimpolizei, öffentliche Ämter im wiedervereinigten Deutschland zu bekleiden. Mit der de facto Lustration betrat Deutschland 1990 – anders als die Staaten des ehemaligen Ostblocks – einen Sonderweg.

Lustration, Akten und Archive

Voraussetzung für Lustration ist die Öffnung von Archiven. Was auf Normalbürger wie ein staubiger Haufen Altpapier wirkt, hat enorme Sprengkraft: Dokumentationen über Folter, Mord, Bespitzelung, Psycho-Terror, Raub, Veruntreuung, Schmuggel oder Geldwäsche finden sich hier. Nicht durch Zufall begannen alle sozialistischen Staatssicherheitsdienste und die Kommunistischen Parteien 1989 mit der Vernichtung ihrer Archive.

In Berlin stürmten Demonstranten am 15. Januar 1990 die Stasi-Zentrale, um genau diese Archive zu sichern. In Bulgarien suchten sich die Demonstranten 1990 die Parteizentrale der BKP als Ziel, während die Staatssicherheit DS bis in den Sommer 1990 fast 40% ihrer Archive vernichtete. Außerhalb Deutschlands dauerte es bis zu den beiden EU-Ost-Erweiterungen 2004 bzw. 2007, bis fast alle ehemals sozialistischen Staaten die Unterlagen ihrer ehemaligen Geheimpolizeien zugänglich machten. In Bulgarien waren solche Vorhaben zuvor gleich mehrfach gescheitert.

Seit einem Monat wird in Sofia gegen die Regierung demonstriert

Die Verbindung: Staatssicherheit – Mafia – Korruption

Warum aber bewegt die Frage der ehemaligen kommunistischen Kader in Bulgarien auch nach 30 Jahren so viele Gemüter? Diese Frage verweist auf die vielschichtige Rolle der bulgarischen Staatssicherheit in der Transformationszeit. Unter Experten wie Momchil Metodiev, Forscher des Sofioter Instituts für Zeitgeschichte, gilt es als unbestritten, dass die Kader und Netzwerke der kommunistischen Staatssicherheit der Schlüssel für die Entstehung des modernen “Mafia-Staates” sind. Über Netzwerke und Seilschaften zwischen den Offizieren der Staatssicherheit, Partei- und Wirtschaftsfunktionären verschwanden Millionen und Abermillionen aus dem Partei- und Staatsvermögen in den wilden Wendejahren nach 1990.

Schon der sowjetische Geheimdienst KGB zählte, einem Überläufer zufolge, 1980 über 1000 Millionäre in Bulgarien, die sich durch ihre staatlichen Posten Macht und Reichtum verschafft hatten. In den 1990er Jahren kamen etliche hinzu. In “roten Koffern” soll Ministerpräsident Andrey Lukanov Millionen Lewa an handverlesene Kader aus Partei und Staatssicherheit verteilt haben, um Firmen, Medien, Geschäfte, Hotels, Banken oder Versicherungen zu gründen. Staatliches Geld wurde zu privatem, Offiziere der Staatssicherheit und Parteikader bekamen eine Starthilfe für die neue Zeit. Als der Untergang des Kommunismus die alten Partei- und Geheimdienstgenossen zwang, ihre politische Macht teilweise aufzugeben, sicherten sie sich so wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einfluss.

Die Überprüfungen der heutigen “Kommission für die Dossiers” zeigen ein eindeutiges Bild von der Durchsetzung der bulgarischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Symbolisch steht diese Zugehörigkeit auch nach über 30 Jahren für die Verbindung aus kommunistischen Kadern, Seilschaften, kriminellen Netzwerken, Korruption, Bereicherung und Hinterzimmerdeals.

Gescheiterte Lustration in Bulgarien

Dieser unheilvolle Kreislauf wurde in Bulgarien nie durchbrochen. Die im Sommer 1990 wieder gewählte Bulgarische Sozialistische Partei schaffte es, Forderungen nach Aktenöffnungen und Lustration immer wieder zu torpedieren. Und auch die Opposition versagte: 1997 und 2001 versuchte die Regierung Ivan Kostovs Archivöffnungen und Überprüfungen, die scheiterten. Besonders pikant: Verfassungssrichter, die entsprechende Gesetze blockierten, waren selbst ehemalige Zuträger der Staatssicherheit.

So verschleppte sich die Aktenöffnung bis zum EU-Beitritt Bulgariens 2007. Damals wurde hastig die heutige “Kommission für die Dossiers – KOMDOS” ins Leben gerufen. Zwar gelang es KOMDOS erstmals, einen Großteil der verbliebenen Unterlagen in einem eigenen Archiv zu sammeln und zu öffnen. Eine Lustration oder rechtliche Konsequenzen haben die ehemaligen Geheimdienstler aber nicht zu befürchten.

Demonstranten in Sofia fordern den Rücktritt der Regierung Borissow

2010 kam es zu einem vielsagenden Fall: Massenhaft wurden hochrangige bulgarische Diplomaten als ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt. Es folgten zum ersten und einzigen Mal Entlassungen. Diese “stille Lustration” wurde jedoch vom Verwaltungsgericht aufgehoben, da es keine Rechtsgrundlage dafür gab.

Die fehlende Lustration ist in Bulgarien ein kollektives Trauma. “Eine Öffnung der Archive und Lustration zu Beginn der Transformation hätte die alten Seilschaften und Abhängigkeiten, die bis heute bestehen und die Basis der heutigen Korruption sind, verhindern oder zumindest einschränken können”, schätzt Momchil Metodiev ein. Der lange Schatten dieser Versäumnisse geistert seit drei Jahrzehnten durch die bulgarische Politik und Gesellschaft. Jetzt hat er – wieder einmal – die Massenproteste erreicht.

Zukunftsmodell Lustration?

Doch ist eine Lustration im Jahr 2020 noch eine realistische Option? Experten wie Metodiev sind da eher skeptisch: “Es ist schwer zu sagen, welche Ergebnisse eine Lustration heute noch haben würde.” Die alten Garden der Partei und Staatssicherheit sind bereits im Ruhestand und haben ihr Zepter an die nächste Generation weitergereicht.

Neue Eliten, wie sie die heutigen Proteste fordern, wird eine Lustration nicht mehr hervorbringen. 30 Jahre nach dem Untergang des Kommunismus hätte das nur noch symbolische Bedeutung. Eine Lustration könnte aber die moralische Basis für den Aufbau neuer Eliten bilden. Und das Verlangen nach neuen Eliten ist in allen Kreisen der bulgarischen Gesellschaft offensichtlich.