Israelkritik: Wer ist Antisemit – und wer nicht?

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In einem offenen Brief an Kanzlerin Merkel beklagen 60 Intellektuelle, Israelkritik werde vorschnell als Antisemitismus gebrandmarkt. Der Vorwurf flammt immer wieder auf – denn dahinter steckt ein ungelöstes Problem.

Im November vergangenen Jahres postete ein ehrenamtliches Mitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) auf Facebook eine Nachricht. “Der zionistische Terrorstaat” Israel vertreibe völkerrechtswidrig die Bewohner der Palästinensischen Gebiete, “damit die jüdischen Herrenmenschen dort ihren Anbau betreiben können.” Und darunter noch der Satz: “P.S.: Das ist nicht antisemitisch.” Das sah der DGB anders. Der Mann musste seine Ehrenämter bei dem Gewerkschaftsbund aufgeben.

Der Facebook-Eintrag ist ein deutliches Beispiel dafür, ab welchem Punkt Kritik an Israel die Schwelle zum Antisemitismus überschreitet: Israel wird dämonisiert, die alleinige Schuld für den Nahost-Konflikt zugeschrieben und mit nationalsozialistischen Begriffen wie “Herrenmenschen” diffamiert. Nicht immer aber ist der Übergang zum Antisemitismus so deutlich. Häufig ist Kritik an der israelischen Regierung überhaupt nicht antisemitisch. Und da wird es kompliziert.

In einem offenen Brief haben sich jüngst 60 deutsche und israelische Wissenschaftler an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt. Sie drücken darin die Sorge vor einem “inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs” aus, der auf die “Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik” ziele. Es ist nicht der erste Brief, in dem diese Sorgen ausgedrückt werden.

Angeblicher Einfluss aus Israel

Der Vorwurf, ein Antisemit zu sein, wiegt im post-nationalsozialistischen Deutschland besonders schwer. Entsprechend scharf wird die Debatte geführt. Meist kreisen die Kontroversen um einzelne Personen, die mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert werden. Vor allem jüdische Organisationen und Einzelpersonen begründen ihren Antisemitismus-Vorwurf damit, dass die geäußerte Israelkritik weit über das hinaus ginge, wie andere Staaten kritisiert werden würden.

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“Antisemitismus tief verwurzelt”

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“Antisemitismus in deutscher Gesellschaft tief verwurzelt”

Auf der anderen Seite stehen Personen, wie die Unterzeichner des offenen Briefes, die häufig sagen, der Antisemitismus-Vorwurf haben seinen Ursprung in einer Einflussnahme aus Israel. So werfen die Unterzeichner des Briefs dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, vor, “rechtspopulistische israelische Stimmen” zu unterstützen. Gemeint ist damit der deutsch-persisch-israelische Publizist Arye Sharuz Shalicar, der auch Abteilungsleiter in der israelischen Regierung ist. Die Bundesregierung soll Shalicars Buch “Der neu-deutsche Antisemit” und dessen Lesereise gefördert haben. Shalicar kommt in seinem Buch zu dem Schluss, dass Antisemitismus in Deutschland, häufig getarnt als Israelkritik, tief verwurzelt sei. Was Shalicar zu einem israelischen Rechtspopulisten machen soll, erklären die Unterzeichner in dem Brief nicht.

Die Zeitung “Der Tagesspiegel” berichtet unter Berufung auf das Büro des Antisemitismusbeauftragten, die Bundesregierung habe lediglich eine Antisemitismus-Tagung mit 14.000 Euro unterstützt, bei der unter anderem Shalicar als Redner auftrat. Das Büro des Beauftragten bestätigte die Angaben des Tagesspiegel auf Anfrage der DW. In einem Gegenbrief an Merkel haben inzwischen zahlreiche jüdische Organisationen, darunter der Zentralrat der Juden, ihre Solidarität mit Felix Klein ausgedrückt. Es wird ausdrücklich gelobt, dass er konsequent alle Erscheinungsformen des Antisemitismus bekämpfe.

Kriterien für anti-israelischen Judenhass

Es gibt Definitionen, die dabei helfen, israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen. Der sogenannte 3-D-Test kategorisiert Kritik an Israel dann als antisemitisch, wenn die Aussagen Israel dämonisieren, delegitimieren oder doppelte Standards angelegt werden. Auch die Organisation “International Holocaust Remembrance Alliance” (IHRA) hat eine Arbeitsdefinition erarbeitet, wonach Erscheinungsformen von Antisemitismus sich auch “gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird” richten können. Allerdings könne “Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden”.

Unterzeichner des Gegenbriefes beziehungsweise deren Unterstützer sehen diese Vorgabe in Deutschland auch eingehalten. Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel sagte im Deutschlandfunk, niemand, der bei “Sinn und Verstand” sei, behaupte, legitime Kritik an Israel sei antisemitisch. Die einzigen, die das behaupteten, seien die Schreiber des offenen Briefes an Merkel. “Das ist ein Phantasma in den Köpfen.” Dem widerspricht beispielsweise die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die den offenen Brief mitunterzeichnete. Vor allem dadurch, dass der deutsche Bundestag die IHRA-Arbeitsdefinition nicht vollständig, sondern nur in Teilen, übernommen habe, habe sich die Meinungsfreiheit verengt.

Antisemitische Straftaten von Rechts

Unterzeichner des offenen Briefes, wie der langjährige Antisemitismusforscher Wolfgang Benz und Aleida Assmann, sehen die Hauptgefahr im Antisemitismus von rechts. Tatsächlich gehen die meisten antisemitischen Straftaten auf das Konto von Rechtsextremen; die Zahl variiert jedoch stark, abhängig davon, welche Statistik herangezogen wird. Demgegenüber machen verschiedene jüdische Verbände und Institutionen seit Jahren auf einen erstarkten Antisemitismus aus linken und muslimischen Kreisen aufmerksam. In diesen Kreisen tritt der Antisemitismus vor allem im Gewand des Antizionismus auf.

Die Checkpoints zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten ist häufig ein Kritikpunkt israelischer Politik

Was das bedeutet und wie groß die Diskrepanz in der Wahrnehmung ist, wird am Beispiel der Bewegung Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen BDS deutlich: Vergangenes Jahr beurteilte der Bundestag die weltweite Boykott-Bewegung gegen Israel als teilweise antisemitisch. Historiker Benz kritisiert das und sagt der Bundestag liege falsch, wenn er BDS “als schlimmsten Auswuchs des Antisemitismus definiere”. Sein Historiker-Kollege Michael Wolffsohn widerspricht. Er warnt vor einer Verharmlosung der Bewegung und sagt, die Ziele des BDS förderten letztendlich das Ende Israels. BDS-Anhänger setzen weltweit auf den Boykott von israelischen Waren und Kulturangeboten, um, wie es im Gründungsdokument von 2005 heißt, Israel dazu zu bringen, “die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes” zu beenden.

Heimstätte aller Juden nach Verfolgung

Außerdem fordert BDS das Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge, die 1948 nach der israelischen Staatsgründung vertrieben worden oder geflohen sind. Durch den vererbten Flüchtlingsstatus sind das heute rund fünf Millionen Menschen. Das könnte das Ende des jüdischen Staates mit seinen fast neun Millionen Einwohnern bedeuten, befürchten viele Juden. Viele jüdische Organisationen heben deshalb den antizionistischen Charakter von BDS hervor, da die Bewegung Israel als zionistischen Staat bekämpft. Zionismus beschreibt das Streben nach einer Heimstätte aller Juden, nach Jahrtausenden der Verfolgung. Das Ziel wurde 1948 mit der Gründung Israels erreicht – auch dadurch, dass nun Juden aus aller Welt jederzeit nach Israel emigrieren können. Die Frage ist nur: Wenn Israel als zionistischer Staat – und somit als sichere Überlebensgarantie aller Juden – abgeschafft wird, was bleibt dann noch?

Die BDS-Bewegung ist keine feste Organisation und hat Anhänger auf der ganzen Welt

Für die einen ist BDS weiterhin eine friedliche und effektive Form des Protests, für die anderen schleichender Antisemitismus. Eine Studie verschiedener jüdischer Nichtregierungsorganisationen ergab 2019 einen Zusammenhang zwischen dem Erstarken von BDS-Gruppen an US-amerikanischen Hochschul-Campus und antisemitischen Vorfällen. Andererseits gibt es auch israelische Stimmen, wie den ehemaligen Botschafter in Deutschland Schimon Stein, die daraufhin hinweisen, dass die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu sehr schnell Kritik an der Besatzungspolitik als antisemitisch bezeichne, um die Kritik zu unterbinden.

In Deutschland wird gerade die vermeintliche Einmischung aus Israel zunehmend kritisch gesehen. Und solange keine Einigkeit darüber besteht, wie gefährlich anti-israelische Judenfeindlichkeit ist und ob Antizionismus eine Form des Antisemitismus ist, wird es weitere offene Briefe, Gegenbriefe und sich unversöhnlich gegenüberstehende Parteien geben.


  • Israel-Boykott: Welche Künstler machen mit und welche nicht?

    Roger Waters, der “Chef-Knurrer des Rock”

    So nannte ihn die Süddeutsche Zeitung. Waters unterstützt den britischen Ableger der Organisation “Artists for Palestine” und damit die Kampagne BDS (“Boycott, Divestment and Sanctions”) zur wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Isolation Israels. Britische Bands, die ein Konzert in Israel planen, fordert er auf, es abzusagen. BDS macht Druck: im Netz oder mit Störaktionen bei Konzerten.


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    Kate Tempest, Rapperin: Etwas zuviel Politik?

    Tempest unterstützt “Artists for Palestine” und stellt in der “Zeit” klar, sie sei über die Handlungen der israelischen Regierung gegen die Palästinenser entsetzt: “Ich habe mich nach langem Nachdenken dem kulturellen Boykott angeschlossen – als Akt des Protestes.” Jetzt wird sie verdächtigt, Antisemitin zu sein. Die Folge: Druck von allen Seiten. Im Oktober sagte sie ein Konzert in Berlin ab.


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    Elvis Costello gibt nach

    Schon seit Jahren beugen sich namhafte Bands und Musiker den Aufrufen des BDS und sagen Konzerte in Israel ab. Unter ihnen Carlos Santana, die Pixies und Elvis Costello, der bereits 2010 als Begründung für die Absage auf seiner Homepage schrieb: “Die israelische Sicherheitspolitik macht auch vor Einschüchterung und Demütigung der palästinensischen Zivilbevölkerung nicht halt.”


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    Depeche Mode spielen “stillschweigend”

    Während ihrer Delta Machine Tour 2013/14 hatte die Band jeden Tourtag ausgiebig im Netz geteilt – nur über den Gig in Tel Aviv verlor sie kein Wort. Der BDS glaubte, Depeche Mode habe sich für den Auftritt geschämt. Ob das stimmt? 2006 hatte die Band nämlich ein Konzert aus politischen Gründen gecancelt: Bei einem israelischen Luftangriff auf den Libanon waren 52 Zivilisten getötet worden.


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    Punker Johnny Rotten ein “Rassist”?

    Mit den Sex Pistols hat er Anarchie gelebt. Jetzt tritt Johnny Lydon (links) unter seinem echten Namen auf – auch in Israel – und hat eine drastische Botschaft an die, die ihn mit Hass-Mails bedrohen: “Solange kein arabisches, kein muslimisches Land mit einer Demokratie in Sicht ist, verstehe ich nicht, wie jemand ein Problem damit hat, wie die Palästinenser behandelt werden.” (The Independent)


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    Elton John zeigt einen Vogel

    Elton John ist schon oft in Israel aufgetreten – in den letzten Jahren auch unter zunehmendem Protest der antiisraelischen Bewegung. Das scheint ihn aber nicht zu beeindrucken, im Gegenteil: Auf der Bühne zeigt er dem BDS schon mal den Vogel. 2010 grüßte er seine Fans mit den Worten: “Shalom! Wir sind so glücklich, wieder hier zu spielen. Nichts kann uns davon abhalten, immer wieder zu kommen!”


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    Eine “zermürbende Erfahrung” für Radiohead

    Massiven Druck erlebten im Juli 2017 auch Radiohead vor ihrem Gig in Israel. Sänger Thom Yorke wehrte sich auf allen Kanälen: “Das ist extrem ärgerlich. Es gibt eine verdammt große Zahl von Leuten, die nicht mit der BDS-Bewegung einverstanden sind, darunter wir.” (Rolling Stone) “Musik, Kunst und Wissenschaft haben die Aufgabe, Grenzen zu überwinden und nicht, sie erst zu errichten.” (Twitter)


  • Israel-Boykott: Welche Künstler machen mit und welche nicht?

    Michael Stipe springt zur Seite

    Der R.E.M.-Sänger war einer der wenigen, die sich mit deutlichen Worten in die Diskussion um den Auftritt von Radiohead in Israel eingeschaltet haben: “Ich stehe hinter Radiohead und deren Entscheidung, zu spielen. Lasst uns hoffen, dass der Dialog weitergeht, die Besatzung beendet wird und es eine friedliche Lösung geben wird.” (Twitter)


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    Nick Cave: Jetzt erst recht

    Auf der Facebook-Seite “Nick Cave Don’t Play Apartheid” wurde gegen ihn Stimmung gemacht, als er im November 2017 in Israel auftreten wollte. Auch im richtigen Leben wurde Nick Cave vom BDS bedrängt. Er hat trotzdem gespielt: “Ich möchte ein Zeichen gegen jeden setzen, der versucht, Musiker zum Schweigen zu bringen. In gewisser Weise hat der BDS mich dazu gebracht, erst recht hier zu spielen.”


  • Israel-Boykott: Welche Künstler machen mit und welche nicht?

    “Bryan, sag der Welt, dass du Apartheid nicht unterstützt”

    Zur Zeit bedrängt der BDS den kanadischen Musiker Bryan Adams massiv, die geplanten Konzerte in Israel abzusagen. Schließlich habe Adams mal gesagt, der Krieg in Gaza sei ein Krieg gegen die Menschlichkeit. Außerdem habe er 2016 seine Mississippi-Tour gecancelt, aus Protest gegen die homophoben Gesetze dort. Doch Adams hört nicht auf den BDS – und gibt stattdessen noch ein Zusatzkonzert in Jaffa.


  • Israel-Boykott: Welche Künstler machen mit und welche nicht?

    Boney M in Ramallah

    Dass es auch ganz ohne Entrüstung und Protest gehen kann, zeigte 2010 ein Konzert der deutschen Discopopgruppe Boney M im palästinensischen Ramallah – dort waren auch viele Israelis im Publikum. Ihren größten Hit “Rivers of Babylon” durften Boney M dort allerdings nicht singen. In einer Zeile ist nämlich von der biblischen Sehnsucht nach Zion die Rede. Die Musiker fügten sich der Zensur klaglos.

    Autorin/Autor: Silke Wünsch