Loveparade 2010: Fragen nach Schuld und Verantwortung

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Warum? 21 Menschen sterben am 24.07.2010 bei der Loveparade in Duisburg, 652 werden verletzt. Der Prozess – eingestellt. Dokumentarfilmer lassen Eltern, Zeugen, Juristen und einen Angeklagten zu Wort kommen.

Gedenkstätte für die Loveparade-Toten in Duisburg. In der Nähe dieser Treppe kam es zur tödlichen Enge

Christian (25) aus Deutschland, Clara (22) aus Spanien und Giulia (21) aus Italien sind drei der mehr als 200.000 Menschen, die am 24. Juli 2010 auf der Techno-Party Loveparade in Duisburg feiern wollen. Christian, Clara, Giulia – insgesamt 13 Frauen und acht Männer aus Australien, China, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Spanien sterben durch den tödlichen Stau der Besucher auf dem Weg zum Festivalgelände, das erstmals bei einer Loveparade eingezäunt ist. Überlebende haben Schuhabdrücke auf T-Shirts und im Gesicht. 652 Menschen werden verletzt, viele traumatisiert.

Wer ist schuld, wer trägt die Verantwortung für diese Katastrophe in Deutschland, wo alle darauf vertrauen, dass sie sicher sind? Diese Frage quält Überlebende und Hinterbliebene von Anfang an. Die damalige Ministerpräsidentin des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW), Hannelore Kraft, sagt 2010 bei der Trauerfeier, das werde alles lückenlos aufgeklärt.

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Bewegender Abschied – Trauerfeier für die 21 Toten der Loveparade

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Bewegender Abschied – Trauerfeier für die 21 Toten der Loveparade

Aufklärung im Prozess?

Doch es gibt keinen Untersuchungsausschuss. Der Prozess zur Loveparade beginnt erst im Dezember 2017 gegen zehn Angeklagte der Stadt Duisburg und des Veranstalters Lopavent. Im Mai 2020 wird er ohne Urteil endgültig eingestellt. Das Gericht verweist auf viele Ursachen des Unglücks und geht von einer eher geringen Schuld der Angeklagten aus. Ist jetzt alles geklärt, wie Kraft versprochen hat? “Ich habe nicht recht behalten”, sagt die SPD-Politikerin knapp zehn Jahre nach der Loveparade im NRW-Landtag. Der Prozess habe aber viel zur Aufklärung beigetragen.

Der Vorsitzende Richter Plein stellte den Prozess im Mai ohne Urteil ein – Ende Juli wäre die Verjährung eingetreten

Regisseur Dominik Wessely und Drehbuchautorin Antje Boehmert verfolgen diesen Prozess, eines der größten deutschen Strafverfahren mit mehr als 60 Nebenklägern – aus Platzgründen in eine Messehalle nach Düsseldorf verlegt – vom ersten bis zum letzten Verhandlungstag.

Für ihren Dokumentarfilm “Loveparade. Das Verfahren” begleiten sie Eltern der Toten und Überlebende. Sie befragen den Richter, Staatsanwälte und den Gutachter, einen Angeklagten, Verteidiger und einen Polizisten. So entsteht über 184 Verhandlungstage ein Blick aus vielen Perspektiven auf die Katastrophe und die juristische Aufarbeitung im deutschen Rechtsstaat.

Quälende Jahre für Eltern – und Angeklagte

“Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg”, “Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung” – mit einer Tunnelfahrt beginnt die deutsch-spanische Koproduktion. Kurze Videos zeigen Menschenmengen, Rettungssanitäter, den Unglücksort – ein Bild der Verwüstung. Christian, Clara, Giulia und die anderen wurden erdrückt und erstickt in der angestauten Menschenmenge zwischen Tunnel, Mauern, einer Treppe.

Im lebensgefährlichen Gedränge nahe der Treppe gab es viele Versuche, Menschen in Sicherheit zu bringen

“Es geht mir nicht um Rache”, sagt Gabriele Müller, Christians Mutter, am ersten Prozesstag, sie wolle Aufklärung, möchte Frieden finden. Francisco Zapater und Nuria Caminal, die Eltern von Clara, stecken sich das Foto ihrer Tochter an. Sie kommen aus dem spanischen Tarragona zum Prozess.

Claras Vater berichtet den Journalisten in Düsseldorf, wie sie 2010 die Todesnachricht erhalten, ihre Tochter identifizieren müssen, sie im Sarg zurück nach Hause holen: “Das war sehr hart.” Einige Monate später sagt Zapater, selbst Jurist, ein so langer Prozess sei “eine wahre Tortur, nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Angeklagten”.

Müller (Mi.) verlor bei der Loveparade Sohn Christian (25), Zapater und Caminal ihre Tochter Clara (22)

Claras Eltern hätten wie viele andere gerne Adolf Sauerland, 2010 Oberbürgermeister von Duisburg, und Lopavent-Chef Rainer Schaller auf der Anklagebank gesehen. Beide wollten die Loveparade und wiesen nach dem Unglück die Verantwortung von sich. Als Zeugen betonen sie, dass sie mit der konkreten Planung nicht befasst waren.

Im Film schildert Edith Jakubassa einen Besuch Sauerlands, nicht lang nach dem Tod ihrer Tochter Marina (21). Er sei ihr als “Häufchen Elend” in die Arme gefallen: “Nicht mir, ihm ist was passiert.”

Bilder der Katastrophe: Angeklagter weint

“Guten Morgen, bitte nehmen Sie Platz”, mit dem Gruß des Vorsitzenden Richters Mario Plein müssen alle Aufnahmen im Prozesssaal enden, so ist es in Deutschland geregelt. Die Filmemacher lassen wichtige Passagen anhand eines eigenen Gerichtsprotokolls nachsprechen, zusätzlich berichten Beobachter. So entsteht eine intensive Chronik des Verfahrens, das die Ursachen der Loveparade-Katastrophe erkundet, um die Schuld der Angeklagten zu klären.

Gabriele Müller, deren Sohn Christian im Gedränge starb, sagt der DW vor dem Prozess, im Gerichtssaal würden sicher Videos der Katastrophe gezeigt, für die Angeklagten “wäre es vielleicht gut, wenn sie es auf der großen Leinwand sehen”. Im Januar 2018 schrillen Schreie der Loveparade-Besucher in Lebensgefahr durch den großen Messesaal: “Hilfe, ich kann nicht mehr!” Gesichter verzweifelter Menschen zucken über die großen Leinwände. Danach ist es ganz still, nur die Klimaanlage summt.

Ingo Bott (re.), Verteidiger von Jürgen Dressler, vertrat die Auffassung, dass sein Mandant nicht auf die Anklagebank gehörte

“Du bist in der Nähe von toten jungen Menschen”, im Prozess sei ihm das schlagartig bewusst geworden, sagt Jürgen Dressler den Dokumentarfilmern. 2010 leitet er das Baudezernat der Stadt Duisburg, das die Genehmigung für die Loveparade auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs erteilt. Er und fünf seiner Mitarbeiter sitzen bis Anfang 2019 auf der Anklagebank. Im Prozess habe er das Unglück erst richtig wahrgenommen, sagt Dressler: “Da saß ich da und habe geweint.” Es seien Bilder gewesen, “die nicht sein durften”.

“Wie unendlich leid mir das tut” – als Mensch, als Polizist

Am Tag der Loveparade hat die Polizei eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Besucherströme. Als es voll wird, bildet sie drei Polizeiketten. Polizist Torsten Meyer sagt als Zeuge aus. Er schildert, wie Funk und Telefonverbindungen immer wieder ausfallen, wie er sich mit dem Veranstalter abstimmt, wie schwer es ist, die Menschenströme auf das Gelände und zurück zu überblicken und zu steuern. Er sieht die Enge an der Treppe von oben, es wirkt “gefährlich, aber nicht tödlich”, sagt er im Film.

Polizei und Veranstalter Lopavent gelang es nicht, den gefährlichen Stau der Menschen rechtzeitig aufzulösen

Als eine Kollegin meldet, “hier liegen Tote”, habe er gedacht: “Du musst dich irren.” Später verfolgt ihn das Gefühl, er habe zugesehen, wie Menschen sterben, aber: “Ich konnte es nicht sehen.” Seine Aussage im Prozess ist ihm wichtig, weil er Opfern und Hinterbliebenen sagen wolle, “wie unendlich leid mir das tut”, als Mensch – “ich bin selbst Familienvater” – und als Polizist, der will, “dass alles sicher ist”. 

Der Film ergänzt seine Schilderung mit Aussagen des Gutachters Jürgen Gerlach: Simulationen zeigen, dass es auch ohne Polizeiketten zu dem lebensgefährlichen Stau gekommen wäre. Das abgesperrte Gelände mit der engen Wegführung war nicht geeignet für die Loveparade, sagt Gerlach, aber das Unglück hätte auch am Veranstaltungstag noch verhindert werden können.

Oberstaatsanwalt: “Organisierte Verantwortungslosigkeit”

Die Einstellung des Loveparade-Prozesses erläutert das Gericht in einem mehr als 44-seitigen Beschluss. Richter Mario Plein sagt, den “großen Bösewicht” habe man nicht gefunden. Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff erläutert, dass es immer um die individuelle strafrechtliche Schuld geht.

Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff: Zu prüfen ist nur die individuelle strafrechtliche Schuld

Ein Beispiel: Wolfgang Rabe, Leiter des Ordnungsamts und Koordinator für die Loveparade, der nicht angeklagt wurde. Als Zeuge gibt er zu, dass er Druck ausübte. Mühlhoff kommentiert: “Aus meiner Sicht hat Herr Rabe sicher eine moralische Mitverantwortung für das Unglück, aber strafrechtlich sehe ich es bis heute nicht.” Die Mitarbeiter der Baubehörde hätten zwar Bedenken dokumentiert, aber die Genehmigung für den Veranstalter erteilt.

Insgesamt spricht Mühlhoff bei der Loveparade in Duisburg von “organisierter Verantwortungslosigkeit”, sehr viele seien beteiligt gewesen: “Letztlich blieb sogar unklar, wer wofür zuständig ist. Das hat mit zu der Katastrophe geführt.”

Regisseur Dominik Wessely: Keine einfachen Antworten – die Dokumentation zeigt auch, wie der Rechtsstaat funktioniert

Der Film über den Prozess zeigt, wie vielschichtig die Frage der Verantwortung ist und wie der deutsche Rechtsstaat funktioniert. “Es gibt keine einfachen Antworten”, sagt Regisseur Dominik Wessely der DW, für viele müsse das Ende des Verfahrens “emotional unbefriedigend” bleiben.

NRW-Landtag: Neue Regeln, Bitte um Vergebung

Kurz vor dem 10. Jahrestag ist die Loveparade Thema im NRW-Landtag. Parteiübergreifend beschließen die Abgeordneten: Der Hilfsfonds für die Opfer wird um fünf Millionen Euro aufgestockt. Eine Kommission überarbeitet die Regeln für Großveranstaltungen und analysiert, wie so komplexe Ereignisse künftig besser aufgearbeitet werden können. Nebenklage-Vertreter Julius Reiter sagt der DW: “Wir sehen in diesen Entscheidungen auch eine notwendige Reaktion auf den enttäuschenden Abschluss des Strafverfahrens.”

Wie können Großveranstaltungen sicherer werden? In Nordrhein-Westfalen sollen jetzt die Regeln überarbeitet werden

“Fehlende Schuld im juristischen Sinn heißt nicht, dass es keine Verantwortung gibt”, betont Ex-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Sie nennt die Namen aller 21 Todesopfer und zitiert Nadia Zanacchi, Mutter von Giulia, die erlebte, wie sich nach dem Unglück alle gegenseitig die Verantwortung zuschoben. Kraft sendet aus dem Landtag ein Signal an Hinterbliebene und Überlebende: “Wir bitten Sie um Vergebung.”