Deutsche Erinnerungskultur aus Sicht einer Zugezogenen

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DW-Autorin und Israelin Dana Regev hat beobachtet, dass sich viele Deutsche für die NS-Vergangenheit ihres Landes schämen – und vielschichtig damit umgehen.

Egal, wo man herkommt – jedes Land hat irgendeine Form der Erinnerungskultur. Diese kann sich in Nationalfeiertagen oder in Denkmälern und Gedenkstätten von historisch bedeutsamen Persönlichkeiten äußern. Aber wer schon einmal Zeit in Deutschland verbracht hat, hat eventuell bemerkt, dass die Deutschen mit ihrer Vergangenheit anders umgehen, als es andere Länder tun – aus nachvollziehbaren Gründen. Doch wie sie das tun, ist nicht immer leicht zu verstehen. Folgendes sollte man deshalb wissen.

1. Die deutsche Flagge ist vielen Menschen peinlich

Wenn ein Land die Fußball-Weltmeisterschaft gewinnt, hängen die Menschen dieses Landes normalerweise als erstes die Nationalflagge aus dem Fenster, oder sie schwenken sie aus ihren Autos. Bis vor einigen Jahren war das in Deutschland nicht der Fall. Anders als in vielen Ländern werden die Nationalsymbole hier nicht mit Stolz, sondern eher als Mahnung gesehen. Für den Holocaust verantwortlich zu sein und für den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts – den an den Herero und Nama -, spielt eine große Rolle im kollektiven Empfinden.

In Deutschland noch recht neu: Jubel mit Flagge

 2006, als die WM in Deutschland stattfand, war das tatsächlich ein absolut neues Phänomen: “So viel Schwarz-Rot-Gold war seit der Wiedervereinigung nicht”, schrieb das Wochenmagazin Der Spiegel mit Blick auf die zahlreichen deutschen Flaggen, die die Autos der Fans, Balkons, Hüte und Schals zierten. Als Reaktion auf den neuen Trend äußerten sich damals viele Kulturexperten zur schwierigen Beziehung der Deutschen zum Patriotismus.

Bei Sportveranstaltungen ist die deutsche Flagge seitdem also zunehmend beliebter geworden, im deutschen Alltag dagegen findet man sie weiterhin eher selten. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, die EU- oder die Regenbogenfahne von einem Balkon hängen zu sehen, als die nationale.

“Wir machen das einfach nicht, damit sind wir nicht aufgewachsen”, sagt Jessica, eine 38-jährige Kölner Café-Besitzerin. “Wegen der deutschen Vergangenheit sind offenbar viele Menschen nicht gerade stolz auf Dinge, die Deutschland repräsentieren”, erklärt sie. “Ich denke, das ist besser als blinder Patriotismus.”

2. Frühe Information über historische Tatsachen 

Etwas über die deutsche Geschichte zu erfahren – und besonders über den Zweiten Weltkrieg – ist nicht nur Akademikern oder Museumsbesuchern vorbehalten. Tatsächlich sind historische Museen oft voller Schüler schon ab etwa zwölf Jahren, die dort etwas über die Nazi-Herrschaft und die Gräueltaten, die sie der Menschheit angetan haben, lernen.

“Die Erinnerungskultur ist ein Mittel, das dazu beiträgt, die Nation zusammenzuhalten, um den Menschen eine ‘gemeinsame’ Vergangenheit zu geben”, erklärt Mike Stuchbery, ein australischer Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, der in Stuttgart lebt. 

“Ich erinnere mich, dass ich mindestens drei Mal auf dem Gymnasium ausführlich über den Zweiten Weltkrieg unterrichtet wurde”, sagt Paul Koch, ein 33-jähriger IT-Spezialist aus Berlin. “Außerdem haben wir ein Konzentrationslager besucht”, erzählt er. Für ihn ist klar, warum die Erinnerungskultur in Deutschland stärker ausgeprägt ist als in vielen anderen Ländern.

Schon als Kinder werden Deutsche mit den Gräueltaten der Nazis konfrontiert

“Deutschland war verantwortlich für unvorstellbare Verbrechen. Nicht ‘Nazi-Deutschland’ – Deutschland”, betont er. “Deshalb ist es kein Wunder, dass wir darüber immer wieder unterrichtet werden”, so Koch. Stuchbery stimmt zu: “Diese Generation der Deutschen hat sich der Herausforderung gestellt, herauszufinden, wie sie die Schrecken der Vergangenheit anerkennen und die Erinnerung daran wach halten kann.” Er ergänzt: “Dokumentationszentren, Denkmäler – wie das für die ermordeten Juden Europas in Berlin und die KZ-Gedenkstätte Dachau nahe München – versuchen eine Balance zwischen der Anerkennung schrecklicher Taten und ihrer kontextualisierenden Einordnung zu finden.”

Paul Koch erinnert sich, wie einige seiner früheren Klassenkameraden sich damals beschwerten: Sie waren der Berichte über die Gräueltaten der Deutschen überdrüssig geworden. Er rollt mit den Augen, als er hinzufügt: “Aber sie verstehen nicht, dass wir das nicht nur wiederholen, weil wir Deutsche sind, sondern weil unsere Vergangenheit ein schreckliches Beispiel dafür ist, was anderswo passieren könnte – auch in der Gegenwart.”

3. Den Stift ehren, nicht die Waffe 

Die Deutschen wissen, wozu es führen kann, einen Führer zu glorifizieren. Darum sind ihre Helden vor allem Schriftsteller oder Komponisten und keine Armeegeneräle.

So ist Weimar heute international als Goethe-Stadt bekannt; das Haus, in dem der Dichter und Universalgelehrte wohnte, ist zu einem Nationalmuseum umgebaut worden.

Unbelastetes Stück deutscher Geschichte: Beethoven-Statue in Bonn

In der früheren Bundeshauptstadt Bonn, der Geburtsort Beethovens, stehen mehrere Statuen des berühmten Komponisten. Denkmäler für Johann Sebastian Bach und Martin Luther heißen Besucher in Eisenach willkommen – wo Bach geboren wurde und Luther einige Jahre gelebt haben soll.

“Damit fühle ich mich wohler”, gibt die in Köln wohnende Jessica zu. “In Kriegen gibt es ohnehin keine Gewinner, und wenn wir schon Symbole öffentlich zeigen müssen, dann sollten es solche sein, auf die sich alle – oder fast alle – verständigen können”, erklärt sie. “Im Zuge von ‘Black Lives Matter’ und dem frischen Blick auf Vergangenes wird es interessant sein zu sehen, wie andere Geschehnisse der deutschen Geschichte präsentiert und erinnert werden”, sagt Stuchbery.

DW-Autorin Dana Regev

4. Witze sind nicht immer angemessen

Ich bin eine israelische Jüdin, deren Großeltern Deutschland verließen, bevor der Zweite Weltkrieg offiziell begonnen hatte. Aber auch nach sechs Jahren, die ich nun in Deutschland bin, überrascht mich, dass ich mit schwarzem Humor (und ich meine SEHR schwarzen Humor) besser umgehen kann als der durchschnittliche Deutsche.

Im besten Fall nehmen Deutsche als Reaktion auf einige meiner Witze die Farbe einer Tomate an, im schlechtesten fühlen sie sich extrem angegriffen oder sind sehr verwirrt – vor allem, wenn es in irgendeiner Weise um den Holocaust geht.

Wenn Du also Deutschland als Tourist besuchen solltest, erst kürzlich in eine deutsche Stadt gezogen bist oder einen deutschen Kollegen hast – gehe nicht zu unbedacht mit Deutschlands vergangenen Gräueltaten um. Zumindest nicht, bis alle wissen, dass Du kein Rechtsradikaler bist. Denn leider gibt es auch heutzutage wieder viele deutsche Anhänger rechten Gedankenguts. Übrigens: Der Hitlergruß, auch als vermeintlicher Spaß, ist in der Öffentlichkeit verboten.

Alles in allem zolle ich den Deutschen Respekt dafür, dass sie zumindest die Verantwortung für ihre Taten übernehmen. Viele andere Länder haben an der Menschheit mehr als genug Schaden angerichtet und sind nicht so engagiert, ihre Schuld einzugestehen. Geschweige denn den nachfolgenden Generationen zu vermitteln: Nie wieder.

Mehr über Deutschland und das alltägliche Leben in Deutschland findest Du auf dw.com/MeettheGermans, auf YouTube und auf unserem neuen Instagram-Kanal @dw_meetthegermans.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    KZ Dachau

    Eines der ersten Zwangslager während des Nationalsozialismus wurde in Dachau bei München errichtet. Bereits wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung wurden dort vor allem politische Gegner inhaftiert, von der SS drangsaliert und umgebracht. Dachau diente als Vorbild für die nachfolgenden Konzentrationslager im Herrschaftsgebiet der Nazis.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Haus der Wannseekonferenz

    Die Villa Marlier am Berliner Wannsee gilt als eines der Planungszentren des Holocausts. Am 20.1.1942 trafen sich dort 15 Mitglieder von Reichsregierung und SS, um sich über das Vorgehen beim Völkermord an den Juden abzustimmen. Seit 1992 befindet sich die Gedenk- und Bildungsstätte “Haus der Wannseekonferenz” in den Räumen der Villa.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände

    Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg war von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Schauplatz der größten NS-Propagandaveranstaltungen. Auf dem elf Quadratkilometer umfassenden Areal fanden zum jährlichen Parteitag Aufmärsche mit bis zu 200.000 Menschen statt.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    KZ Bergen-Belsen

    Das KZ Bergen-Belsen in Niedersachsen diente zuerst als Kriegsgefangenenlager. In den letzten Kriegsjahren wurden hier vor allem erkrankte Häftlinge aus anderen Lagern untergebracht. Der Großteil wurde vorsätzlich getötet oder starb durch Krankheit. Eines der 50.000 Todesopfer war das jüdische Mädchen Anne Frank, das durch ihre posthum veröffentlichten Tagebücher weltweite Bekanntheit erlangte.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    KZ Buchenwald

    Buchenwald nahe der thüringischen Stadt Weimar war eines der größten Konzentrationslager in Deutschland. Von 1937 bis April 1945 verschleppten die Nationalsozialisten rund 270.000 Menschen aus ganz Europa hierhin und ermordeten 64.000 von ihnen.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Gedenkstätte Deutscher Widerstand

    Im Berliner Bendlerblock war das Zentrum des militärischen Widerstands gegen Adolf Hitler. Eine Gruppe von Wehrmachtsoffizieren um Oberst Graf von Stauffenberg scheiterte am 20. Juli 1944 bei ihrem Versuch Hitler zu töten. Einige der Beteiligten wurden noch in derselben Nacht im Bendlerblock erschossen. Daran erinnert dort heute die Gedenkstätte Deutscher Widerstand.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Tötungsanstalt Hadamar

    In Hadamar in Hessen wurden ab 1941 Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen umgebracht. Von den Nazis für “lebensunwert” erklärt, starben hier fast 15.000 Menschen durch Giftinjektionen und Gas. Insgesamt fielen rund 70.000 Menschen dem sogenannten “Euthanasie”-Programm zum Opfer. Die Räume der ehemaligen Tötungsanstalt sind heute Gedenkstätte.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Holocaust Mahnmal

    Als zentrale Erinnerungsstätte in Deutschland dient in Berlin das Denkmal für die ermordeten Juden in Europa. In unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor wurde es am 10. Mai 2005 eingeweiht. Der Architekt Peter Eisenman schuf ein Feld mit 2711 Betonstelen unterschiedlicher Größe. Es ist für Besucher frei begehbar. Eine unterirdische Gedenkausstellung ergänzt den Komplex.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Denkmal für die verfolgten Homosexuellen

    Der Formensprache des Holocaustmahnmals nachempfunden ist die Gedenkstätte für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Es wurde am 27. Mai 2008 im Berliner Tiergarten eingeweiht. Eine verglaste Öffnung gibt den Blick auf das Innere frei, in dem ein Film von sich küssenden Männer- und Frauenpaaren in Endlosschleife gezeigt wird.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma

    Gegenüber des Reichstagsgebäudes in Berlin erinnert seit 2012 eine Gartenanlage an die 500.000 in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma. Auf dem Rand des Brunnens ist auf Englisch, Deutsch und Romanes das Gedicht “Auschwitz” von Santino Spinelli zu lesen: “Eingefallenes Gesicht/ erloschene Augen / kalte Lippen / Stille / ein zerrissenes Herz / ohne Atem / ohne Worte / keine Tränen”.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    Stolpersteine

    Der deutsche Künstler Gunter Demnig begann in den 1990er Jahren ein Projekt zur Aufarbeitung des Holocausts: Vor den ehemaligen Wohnorten der Opfer ließ er mit Messingplatten versehene Steine ein, auf denen Namen und Todesumstände eingraviert sind. Über 45.000 Gedenksteine in Deutschland und 17 weiteren europäischen Ländern sind bisher Teil der weltweit größten dezentralen Holocaust-Gedenkstätte.


  • Gedenkstätten des NS-Terrors

    NS-Dokumentationszentrum München

    Am 70. Jahrestag der Befreiung Münchens von den Nationalsozialisten, am 30. April 2015, eröffnete an historischer Stelle ein neues Dokumentationszentrum. Wo früher das “Braune Haus” – die Parteizentrale der NSDAP – stand, erhebt sich jetzt ein weißer Kubus. Daneben im “Führerbau” hatte Hitler sein Büro. Nach Berlin und Nürnberg beleuchtet damit auch München das dunkelste Kapitel seiner Geschichte.

    Autorin/Autor: Ille Simon