Erinnern an den schwarzen Fleck der modernen Geschichte

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Bei der Srebrenica-Gedenkfeier in der Berliner Gedächtniskirche sind sich deutsche und bosnische Redner einig: Der Genozid in Bosnien-Herzegowina darf weder in Vergessenheit geraten noch sich wiederholen.

Die Schlange vor der “Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche” in Berliner-Charlottenburg ist kurz: Statt der sonst 1.000 Sitzplätze im Neubau neben der Ruine des im 2. Weltkrieg zerstörten Kirchturms stehen den Organisatoren der Veranstaltung “25 Jahre Srebrenica – ein Gedenken, das zur Menschlichkeit ermahnt” – dem Verein “Islamisches Kulturzentrum der Bosnjaken in Berlin” und der Botschaft von Bosnien-Herzegowina – nur knapp über 100 Plätze zur Verfügung.

“Wegen Corona werden alle Srebrenica-Veranstaltungen in diesem Jahr ganz anders sein als sonst”, erklärt die aus Bosnien stammende rbb-Journalistin und langjährigen DW-Mitarbeiterin Begzada Kilian, die durch die eineinhalb stündige Feier führt. Das gelte auch für das zentrale Gedenken in der ostbosnischen Kleinstadt selbst, wo im Juli 1995 das schlimmste Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand.

In Srebrenica ermordeten Einheiten der Armee der “Republika Srpska” wenige Monaten vor Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina über 8.000 muslimische Jungen und Männer. Internationale Gerichte haben das Massaker inzwischen mehrfach als Genozid eingestuft am muslimischen Volk, das sich heute selbst “Bosnjaken” nennt.

Es ist still im Innenraum der Kirche. Begzada Kilians Stimme halt durch den Saal, in dem die Stühle mit ein Meter fünfzig Abstand voneinander stehen. Das Licht im Saal färben mehr als 20.000 Glasfenster bläulich. Unter dem überlebensgroßen Christus an der Wand steht ein Foto des aus der bosnischen Hauptstadt Sarajevo stammenden Berliner Fotografen Nihad Nino Pušija. Es zeigt eine alte Bosnierin, die die Hände vor dem Gesicht hält, um ihre Tränen zu verbergen.

Um Trauer geht es in der Rede, die Hedija Krdžić nach der Begrüßung durch Pfarrer Carsten Bolz hält. “Im Juni 1995 habe ich meinen Mann Benjamin, meinen Vater und unzählige Verwandte und Freunde verloren”, berichtet die Bosnierin, die in Berlin lebt. Sie hat als Zeugin vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal ausgesagt.

“So langsam ist mein Berliner Leben länger als mein bosnisches”, sagt Hedija Krdžić, “aber meinen Benjamin kann ich nicht dem Vergessen preisgeben, genauso wenig wie meinen Vater und alle anderen unschuldigen Opfer. Danke, dass sie die Erinnerung an den Genozid am Leben erhalten.”

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – Veranstaltung 25 Jahre Srebrenica

Eben diesen “Ausdruck der Pietät” gegenüber den Opfern von Srebrenica sieht Bosniens Botschafterin Jadranka Winbow in der Gedenkfeier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. “Obwohl sie ein Mahnmal gegen die Zerstörungen des Krieges ist, diente schon ihr Wiederaufbau der Förderung der Idee des Friedens.”

Die Kirche war 15 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges von einem deutschen Architekten und einem französischen Glaskünstler gemeinsamen neu erschaffen worden – als Symbol der Aussöhnung. Jeden Freitag wird dort das “Friedensgebet von Coventry” gebetet, dass in den Trümmern der Kathedrale der von deutschen Bomben zerstörten englischen Stadt entstand.

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Vor 25 Jahren fand das schlimmste Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg statt: in dem kleinen Ort Srebrenica im Osten Bosnien-Herzegowinas ermordeten serbische Verbände über 8000 muslimische Jungen und Männer. (08.07.2020)

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Winbow zitiert den spanischen Philosophen George Santayana: “Wer die Vergangenheit vergisst, ist gezwungen, sie zu wiederholen.” Und erinnert daran, wie der deutschen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum 75. Jahrestages des Endes des 2. Weltkrieges die jungen Menschen angesprochen hat: “Auf euch kommt es an! Ihr seid es, die die Lehren aus diesem furchtbaren Krieg in die Zukunft tragen müsst!” Eben das gelte auch für Srebrenica.

Željko Komšić, einer der drei Präsidenten Bosnien-Herzegowinas, macht darauf aufmerksam, dass nicht nur die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Ort des Gedenkens ist – sondern auch der Breitscheidplatz, auf dem sie steht, selbst: “Wir müssen an dieser Stelle auch den Opfern des furchtbaren Terroranschlags gedenken, bei dem vor vier Jahren auf einem Weihnachtsmarkt zwölf Menschen getötet wurden.”

Ein solches Verbrechen könnten Bosnier nicht unerwähnt lassen, so Komšić: “Wir haben Wahnsinn und Hass Ende des vergangenen Jahrhunderts am eigenen Leib erlebt.” Es sei nicht leicht, das Böse als objektive Möglichkeit anzuerkennen. Auch sei es nicht einfach, sich an das Böse zu erinnern. Aber es sei notwendig.

“Srebrenica ist der schwarze Fleck der modernen Geschichte Europa”, betont Željko Komšić, “ein Fleck am Gewissen des am weitesten entwickelten Teils der Welt und der Zivilisation.” Es brauche auf dem gemeinsamen Interesse am Frieden beruhende Partnerschaft, um die Leidenskette, die die Geschichte Europas und Bosniens durchziehe, zu zerbrechen.

Jan Diedrichsen, Vorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), gibt seiner Rede Kriegskindern aus Bosnien Raum, die an die internationale Gemeinschaft und die Vereinten Nationen appellieren, die Konventionen zum Schutz von jungen Menschen endlich umzusetzen.

Und Meho Travljanin, der Vorsitzende des Vereins “Islamisches Kulturzentrum der Bosnjaken in Berlin” zitiert Marek Edelmann, den letzten überlebenden Widerstandskämpfer des Warschauer Ghettos. Der hatte nach Srebrenica gesagt: “Europa hat aus dem Holocaust nicht gelernt, Bosnien ist ein posthumer Sieg Hitlers.” “Das darf nie wieder passieren”, so Travljanin, “nicht in unserem Europa wie wir es verstehen – bunt, offen und vielfältig.”

Im Publikum klatschen neben ganz normalen Berliner mit und ohne bosnischen Hintergrund auch Christian Schwarz-Schilling, Ex-Bundespostminister und 2006/2007 Hoher Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, sowie CDU-Balkanexperte Michael Brand.

Zum Abschluss beten Pfarrer Bolz und Imam Aldin ef. Kusur gemeinsam. Die Geistlichen fordern, dass aus Srebrenica gelernt wird. Dass sich Menschen nicht hassen und vor allem nicht töten sollen. Dass Friede herrsche.