Blutige Nacht in Belgrad: Warum protestieren die Serben?

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Nach der Ankündigung neuer Corona-Ausgangssperren kommt es in der serbischen Hauptstadt zu schweren Ausschreitungen. Kritiker sehen darin den Beginn eines Aufstands gegen die Herrschaft von Präsident Aleksandar Vučić.

Protest gegen neue Corona-Ausgangssperren in der serbischen Hauptstadt Belgrad in der Nacht vom 7. auf den 8.7.2020

“Papa, das ist für dich”, sagt einer der Protestierenden vor dem serbischen Parlament mit Blick in die TV-Kamera. Sein Vater sei an Corona gestorben, erklärt er, im Krankenhaus habe es nicht genug Beatmungsgeräte gegeben. Hinter dem wütenden, trauernden Sohn sind brennende Autos, Tränengasschwaden und Menschen mit blutigen Köpfen zu sehen.

Der Sohn, der seinen Protest dem an COVID-19 verstorbenen Vater widmet, wurde auf den sozialen Netzwerken schnell zum Motto der gestrigen blutigen Nacht von Belgrad. “Die Proteste fordern Opfer, sie bringen Symbole hervor – und jetzt sogar eine Botschaft, mit der wir uns alle identifizieren können”, fasste der Journalist Galeb Nikačević auf Twitter zusammen.

Nur Stunden zuvor war Serbiens Präsident Aleksandar Vučić vor die Presse getreten und hatte verkündet, dass die Corona-Pandemie das Land erneut im Griff habe. Am Dienstag (7.7.2020) waren 13 Menschen mit oder an Corona gestorben – ein trauriger Rekord in dem Balkanland. Offiziell wurden bisher 16.700 Infektionen und 330 Todesfälle kolportiert, die Zahl der Neuinfektionen in den letzten Wochen rasant auf über 300 täglich angestiegen.

Während seines einstündigen Monologs kündigte Vučić Ausgangssperren ab dem kommendem Wochenende an, wie es sie zuletzt im März und April gegeben hatte. Damals durften die Bürger Serbiens bis auf wenige Ausnahmen ihre Wohnungen zwischen Freitag, 18:00 Uhr, und Montags, 5:00 Uhr, nicht verlassen.

Serbische Polizei vor dem Parlament in der Hauptstadt Belgrad in der Nacht vom 7. auf den 8.7.2020

Ausbruch des Zorns

Nach Vučićs Pressekonferenz sammelten sich spontan immer mehr Menschen vor dem Parlament und blockierten die umliegenden Straßen. Um Mitternacht waren bis zu 10.000 Demonstranten zusammen gekommen, einige von ihnen offenbar gewaltbereit. Einer Gruppe gelang es sogar, kurz in den Vorraum des Parlamentsgebäudes einzudringen, bis es der Bereitschaftspolizei gelang, sie zurückzudrängen.

Nach Angaben der Sicherheitskräfte wurden über 40 Beamten verletzt. Fünf Polizeiautos seien in Brand gesteckt, über 20 Menschen festgenommen worden. Weitere “Hooligans” – so nennt die serbische Polizei protestierende Bürgerinnen und Bürger – werde man aufgrund von Videoaufnahmen aufspüren, so Polizeidirektor Vladimir Rebić am Mittwoch (8.7.2020).

Die Sicherheitskräfte seien so zurückhaltend wie möglich vorgegangen, so Rebić weiter. Doch der private TV-Sender N1, der live von vor Ort berichtete, zeigte, wie Bereitschaftspolizisten mit Schlagstöcken auf Menschen einprügelten, die ruhig auf einer Bank saßen. Und Polizisten in Zivilkleidung, die den Kopf eines Demonstranten mit ihren Füßen zu Boden drückten.

“Der sichtbare Ausbruch des kollektiven Zorns zeigt, dass es auch in der serbischen Gesellschaft einen Siedepunkt gibt”, schreibt der serbische Soziologe Dario Hajrić in einem Meinungsbeitrag für DW-Serbisch.

Ein Teilnehmer der Proteste in Belgrad wirft eine Tränengassgranate der Polizei zurück in Richtung Sicherheitskräfte

Simulierte Normalität

Der Grund für den Zorn: Auf den Corona-Ausnahmezustand und die strengsten Ausgangssperren europaweit waren in Mai beispiellose Lockerungen gefolgt. Kaum jemand trug noch Mundschutz, Fußballspiele und ein Turnier mit Tenniststar Novak Djoković wurden vor Fans ausgetragen – und das alles, wie Kritiker vermuten, weil Vučićs Regierung vor den Parlamentswahlen am 21. Juni Normalität simulieren wollte.

Die gipfelte in einer Siegesparty in der Zentrale der Vučićs Fortschrittspartei, nachdem sie bei der von weiten Teilen der Opposition boykottierten Abstimmung 188 von 250 Mandaten für sich gesichert hatte. Nach der Feier mit traditioneller serbischer Blechkapelle und balkanischem Ringtanz meldeten sich mehrere hohe Parteifunktionäre mit Corona-Infektionen in serbischen Krankenhäusern.

Präsident Vučić wies am Dienstag (7.7.2020) alle Vorwürfe von sich. Er arbeite unermüdlich, beschaffe Beatmungsgeräte und Masken, während sich die Opposition offenbar über die steigende Zahl der Corona-Toten freue.

„Die Menschen protestierten in Belgrad nicht, weil eine neue Ausgangssperre angekündigt wurde – sondern weil sie schon vier Monate lang keine Kontrolle mehr über das eigene Leben haben”, meint Soziologe Hajrić. „Diejenigen, die die Kontrolle haben, benehmen sich hingegen unverantwortlich.”

Ohne Abstand, ohne Masken: Siegesfeier der Fortschrittspartei von Präsident Vučić in Belgrad am 21.6.2020

Regierung vertuscht Corona-Zahlen

So vertuschte die Regierung und der für Corona zuständige staatliche Krisenstab die tatsächliche Zahl der Corona-Infektionen, wie ein Bericht der unabhängigen Recherchenetzwerk BIRN nach den Wahlen zeigte. Demnach gab es in Serbien mehr als doppelt so viele Todesfällen in Verbindung mit COVID-19 als, offiziell eingestanden wurde. Auch die Zahl der Neuinfektionen in den Wochen vor dem Urnengang sei geschönt worden.

Seit Jahren wird in Serbien immer wieder gegen den autokratischen Regierungsstil Aleksandar Vučićs demonstriert. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, die wichtigsten Medien des Landes an der kurzen Leine zu halten. Er habe Serbien in einen Parteistaat verwandelt.

Vučić, einst serbischer Ultranationalist, befürwortet heute nominell die EU-Integration seines Landes. Doch Kritiker meinen, der serbische Präsident werde vor allem von europäischen Politikern bis hin zur deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel hofiert, weil man ihm die Lösung der größte Problems auf dem Balkan zutraue: die Anerkennung des früheren serbischen Südprovinz Kosovo als unabhängiger Staat.

Die Opposition in Serbien ist schwach und zersplittert – und wurde ebenso vom gestrigen Protest überrascht wie die Regierung. Oppositionellen Aufrufen, erst am heutigen Mittwoch (8.7.2020) zu friedlichen Protesten zusammen zu kommen, folgten die Bürger Belgrads nicht. Einige oppositionelle Politiker, die vor dem Parlament auftauchten, wurden von wütenden Demonstranten weggejagt.

Den Soziologen Hajrić verwundert die Wut der Menschen in Serbien nicht. „Was hat man den erwartet? Noch einen friedlichen Protestspaziergang? Oder Online-Petitionen? Die Demonstranten werden sich jetzt nicht mehr mit dem einem oder anderem Rücktritt zufriedengeben. Sie wollen einfach nicht mehr schweigen und erdulden, dass man sie für Idioten hält.”