Wahlrechtsreform oder XXL-Bundestag?

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Der Bundestag ist das zweitgrößte Parlament weltweit. Damit er nicht noch größer und teurer wird, sollte eine Reform des Wahlrechts beschlossen werden. Doch mit einer Verschlankung tut sich die Politik schwer.

Fragestunde im Deutschen Bundestag an diesem Mittwoch: Kanzlerin Angela Merkel wird gegrillt. Trotz Corona-Abstandsregeln ist es ziemlich voll unter der Reichstagskuppel in Berlin. Und es könnte nach der nächsten Bundestagswahl – voraussichtlich im September 2021 – noch voller werden. Skeptiker befürchten, dass sich dann 800 Abgeordnete oder mehr im Parlament drängen. Schon derzeit hat der Deutsche Bundestag die Rekordgröße von 709 Parlamentariern und platzt aus allen Nähten. Gesetzlich vorgesehen sind 598 Abgeordnete. 

Dass der nächste Bundestag möglicherweise noch größer werde, sei “den Wählern nur noch schwer zu vermitteln”, sagt Professor Klaus Stüwe der Deutschen Welle. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Ein noch größerer Bundestag würde weitere “praktische Probleme” im Parlamentsalltag mit sich bringen und “natürlich höhere Kosten”. Dem schließt sich auch der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Bundestag an; Marco Buschmann. Komme jetzt nicht schnell eine Reform, “machen wir uns als Politik lächerlich und schwächen damit den Parlamentarismus“, ergänzt der Jurist.

Zwei Stimmen für jeden Wähler

In Deutschland wird nach dem System der personalisierten Verhältniswahl abgestimmt. Jeder Wähler kann auf dem Wahlzettel zwei Kreuzchen machen. Eines für den Vertreter des Wahlkreises. Für diese sogenannte “Erststimme” gilt: Wer die meisten Stimmen erhält, kriegt sicher ein Mandat im Bundestag.

Wahlzettel zur Bundestagswahl mit Erst- und Zweitstimme

Mit der zweiten Stimme wird ein Listenkandidat der Partei bestimmt. Die “Zweitstimme” ist trotz ihres Namens wichtiger als die Erststimme: Denn die Zweitstimme entscheidet über die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag – also darüber, wie viele Sitze im Bundestag jeweils einer Partei zustehen. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate als ihr aufgrund der Zweitstimmenergebnisse zusteht, entstehen sogenannte Überhang- und Ausgleichmandate. Bei der letzten Bundestagswahl im September 2017 waren das insgesamt 111 Sitze extra. 

Der Bundestag: zu groß, zu teuer

Der Bundesrechnungshof hat ermittelt, dass der Deutsche Bundestag mit seinen Abgeordneten, Mitarbeitern und Büros den Steuerzahler pro Jahr rund ein Milliarde Euro kostet. Deshalb fordert der Präsident des Bund der Steuerzahler, Reiner Holznagel, schon lange: “Wir brauchen eine Reform des Wahlrechts mit einer Mandatsobergrenze: 500 Abgeordnete sind genug!” Nach Berechnungen des Verbandes könnte man viele Millionen Euro jährlich sparen, wenn der Bundestag wieder die Norm-Größe hätte oder schrumpfen würde. 

Nur der Nationale Volkskongress in Peking ist noch größer als der Bundestag

Deutschland hat das weltweit zweitgrößte Parlament. Nur der chinesische Nationale Volkskongress ist größer. In der Großen Halle des Volkes in Peking finden 2897 Abgeordnete Platz. Sie repräsentieren rund 1,4 Milliarden Chinesen. In Deutschland kommen auf 709 Abgeordnete rund 83 Millionen Bürger. Für Politikwissenschaftler Stüwe ist klar: Deutschland hat im internationalen Vergleich zu viele Abgeordnete. “Eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages wäre definitiv kein Verlust an demokratischer Qualität”, sagt er. 

Deutschland ist allerdings das bevölkerungsreichste Land in Europa. Von daher macht es Sinn, dass das Parlament größer ist, als in anderen europäischen Staaten. Ein Abgeordneter vertritt hier rund 117.000 Bürger. Sieht man sich andere europäische Länder an, relativieren sich die deutschen Zahlen. In Österreich beispielsweise ist das Parlament noch aufgeblähter. Bei rund 9 Millionen Einwohnern sitzen im Nationalrat 183 Abgeordnete. Auf einen Volksvertreter kommen 49.000 Wähler. 

Schon seit der vergangenen Legislaturperiode tüfteln die Parteien und zwei CDU-Bundestagspräsidenten hintereinander an Modellen, wie der Bundestag nach der nächsten Wahl wieder schlanker werden könnte. Bislang ohne Ergebnis. Jede Partei vertritt ihre eigenen Interessen, will nicht an Macht und Einfluss verlieren. Das Gezerre um eine Reform ist gerade besonders groß, weil sie schnell kommen müsste, um bei der nächsten Wahl noch wirksam werden zu können. 

Die Zeit drängt

Am Freitag tagt der Bundestag zum letzten Mal vor den Ferien. Fast täglich kommen nun neue Vorschläge für eine Wahlrechtsreform. Ein Vorstoß bestimmt schon seit langem die Diskussion; eingebracht von FDP, DIE LINKE und den Grünen. Der Gesetzentwurf sieht eine Verringerung der Wahlkreise vor; von derzeit 299 auf 250.

Doch den hat die Koalition aus Union und SPD zunächst blockiert. Und auch ein Kompromissvorschlag der konservativen Union ist erst mal auf Eis gelegt. CDU/CSU wollten im Kern die Anzahl der Wahlkreise reduzieren; auf 280. Das wiederum passt dem Koalitionspartner SPD nicht. Die Partei reklamiert Beratungsbedarf. 

Der vollbesetzte Bundestag vor Ausbruch der Corona-Pandemie – jetzt müssen die Abgeordneten mindestens einen Platz Abstand voneinander halten

Eine verfahrene Lage. Und so wird es wohl vor der Sommerpause nichts mit einer Wahlrechtsreform. Politikwissenschaftler Stüwe bleibt generell skeptisch. Eine Reduzierung der Wahlkreise brauche viel Zeit “denn nicht nur geografische, sondern vor allem auch demographische Kriterien” seien zu berücksichtigen. “Das kann man nicht über’s Knie brechen”, gibt er zu bedenken.

Kommt bis September kein neues Wahlrecht, ist es wohl zu spät für eine Reform, die ein deutsches Blähparlament noch verhindern könnte. Immerhin, so Politikwissenschaftler Stüwe, gebe es jetzt “einen ernsthaften Diskurs und einige konkrete Vorschläge. Das lässt hoffen.”