“In den USA sind Klagen so normal wie Apfelkuchen”

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Der Milliarden schwere Glyphosat-Vergleich mit dem Chemiekonzern Bayer zeigt: Nirgendwo sonst sind Sammelklagen so beliebt wie in den USA. Die großen Gewinner aber sind nicht unbedingt die Betroffenen.

Werner Baumann war erleichtert. Für den Chef des Bayer-Konzerns ist der milliardenschwere Vergleich, den die Firma vergangene Woche im Rechtsstreit um den umstrittenen Unkrautvernichter Roundup erreicht hat, ein Befreiungsschlag. Mehr als zehn Milliarden Dollar Schadensersatz muss die Firma den rund 100.000 Klägern, die den Inhaltsstoff Glyphosat für ihre Krebserkrankung verantwortlich machen, zahlen. Befürchtungen, dass die Rechtsstreitigkeiten möglicherweise bis zu 20 Milliarden Dollar und mehr kosten könnten, sind damit vom Tisch. Einen entsprechenden Warnschuss musste Bayer bereits im Mai 2019 verkraften. Da sprach ein Gericht in Oakland dem Ehepaar Alva und Alberta Pilliod zwei Milliarden Dollar Schadenersatz zu wegen einer Krebserkrankung beider durch die Nutzung von Glyphosat (siehe Artikelbild).    

Auch wenn die Summe später reduziert wurde: Für das deutsche Unternehmen hätte es weitaus schlimmer kommen können. Kaum ein Land dieser Welt ist so klagefreudig wie die USA. Etwa 40 Millionen Klagen werden jedes Jahr eingereicht, sagt das Institute for Legal Reform, eine Tochterorganisation des US-Handelskammer. Vor allem Rechtsprozesse gegen Unternehmen haben deutlichen Zulauf. 264 Milliarden Dollar würden solche Verfahren die US-Wirtschaft jährlich kosten. 100 Milliarden davon entfielen allein auf kleinere und mittlere Unternehmen.

Die Hände reiben sich aber auch die beteiligten Anwaltskanzleien: Sie kassieren in der Regel ein Drittel der erstrittenen Summe – im Fall des Bayer-Deals rund drei Milliarden Dollar. Ein ertragreiches Geschäft. 

“Wir sind an vorderster Front!”

Vor allem im Internet wird gezielt Stimmung gegen Corporate America gemacht. “Die Medien bombardieren uns mit Nachrichten über das Fehlverhalten von Unternehmen, die für sie kaum mehr als einen Klaps auf die Hand zur Folge haben”, heißt es etwa auf der Webseite ClassAction.com. Wie Dutzende andere auch ist sie eine von vielen Informationsseiten, auf denen sich Verbraucher über aktuelle Sammelklagen informieren können. 200.000 Mandanten hätte man schon bei ihren Klagen geholfen, heißt es auf der Seite. 90 Millionen Dollar seien etwa für Klagen gegen BMW herausgesprungen, 40 Millionen gegen den amerikanischen Mobilfunk-Anbieter TracFone. “Sie können sich gegen die Verantwortungslosigkeit der Unternehmen wehren”, steht dort weiter.

Werbetafel in New York – auf Flächen wird diesen werben auch Anwaltskanzleien um Kunden

Die Seite, hinter der die Anwaltskanzlei Morgan & Morgan steckt, rühmt sich damit, bereits mehr als fünf Milliarden Dollar Schadensersatz für seine Mandanten erkämpft zu haben. Auch im Kampf gegen Bayer hat sich das Anwaltsbüro eingeschaltet. Tausende Kläger habe die Kanzlei nach eigenen Angaben vertreten. “Wir sind an vorderster Front, wenn es darum geht, Monsanto zur Rechenschaft zu ziehen”, schreiben die Anwälte.

Dass die kollektive Rechthaberei in den USA mittlerweile enorme Ausmaße angenommen hat, weiß Kenneth Feinberg nur zu gut. Der Staranwalt, der zu den prominentesten Schlichtern der Vereinigten Staaten zählt, wird oft zur Hilfe gerufen, wenn Firmen vor Gericht zitiert werden. Unternehmenskrisen wie die von Bayer gehören zu seinen Spezialgebieten. Große Firmen wie Volkswagen oder Boeing engagieren ihn, um Streitigkeiten möglichst milde zu schlichten.

Milliardenschweres Geschäft

“In den USA sind Klagen so normal wie Apfelkuchen”, sagt Feinberg, der den Bayer-Prozess als Mediator begleitet hat, im Gespräch mit der DW. Er glaubt, dass der Chemiekonzern gut daran getan hat, sich auf den milliardenschweren Vergleich zu einigen. Hätte Bayer davon abgesehen, wäre die Zahl der Kläger in den kommenden Monaten vermutlich weiter gestiegen – verbunden mit deutlichen höheren Schäden für Reputation und Geschäft. “Auch wenn das Urteil Bayer teuer zu stehen kommt, wiegt die Sicherheit, dass die Klagen nun endlich vom Tisch sind, schwerer”, sagt der 74-Jährige.

Kenneth Feinberg gilt als einer der erfolgreichsten Verbraucher-Anwälte in den USA.

Dass sich Amerika zum Land der spektakulären Prozesse entwickelt hat, liegt in erster Linie am liberalen Rechtssystem. Schon seit Gründung der Republik hat jeder Amerikaner – und erst recht jede juristische Person – das Recht, jeden vor Gericht zu zerren. Vor allem die Aussicht, Firmen per Sammelklage zurechtzuweisen, ist nirgendwo so ausgeprägt wie hier. In den 1970er Jahren wurden dazu die Grundlagen geschaffen. Fragwürdige Machenschaften vieler Firmen blieben damals ohne Konsequenzen, Verbraucher blieben geschädigt zurück. Die Aussicht, Firmen kollektiv zur Rechenschaft zu ziehen, änderte daraufhin die gesamte Industrie.

Was einst gedacht war, um dem kleinen Mann zu helfen, sich gegen milliardenschwere Konzerne zu wehren, hat sich längst zu einem renditeträchtigen Geschäft entwickelt. Die US-Klage-Industrie boomt – und nimmt zuweilen recht kapitalistische Züge an. Ununterbrochen suchen Kanzleien nach neuen, potentiellen Klägern. In den USA kommt nämlich oft der Anwalt zum Opfer, nicht umgekehrt. Mit aggressivem Marketing – etwa über Anzeigen in Fernsehen, Radio oder Internet oder auf riesigen Autobahnplakaten – versuchen die Juristen, die Anzahl der Kläger zu maximieren. Nur so können sie den Streitwert und damit am Ende auch ihr eigenes Honorar erhöhen.

Wenn die Gier ins Spiel kommt

“Man muss nur den Fernseher einschalten und schon sieht man Werbung zu Roundup, zu den defekten Zündschlössern von General Motors oder der Ölkatastrophe von BP”, sagt Feinberg, der sich mit Sammelklagen auskennt wie kein zweiter. Nicht wenige sehen in ihm den Master of Desaster. Feinberg handelt oft die Summen aus, die nach dem Urteilsspruch an die Geschädigten gezahlt werden. Für die Angehörigen der Opfer des 11. September etwa hat er einen Entschädigungsfonds in Höhe von sechs Milliarden Dollar ausgehandelt.

Auch die BP-Kläger nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, die Geschädigten durch die Chemiewaffe Agent Orange oder die Diesel-Kunden von VW hat er vertreten. Mehr als 50 Milliarden Dollar hat er so in den letzten Jahrzehnten im Kampf amerikanischer Verbraucher gegen internationale Unternehmen ausgehandelt. Wer glaubt, dieses Geld würde vor allem in die Taschen der Geschädigten fließen, liegt allerdings falsch. 30 bis 40 Prozent der Schadenssumme fließen laut Feinberg in die Taschen der Anwälte.

“Das Erfolgshonorar ist mit ein Grund dafür, dass Sammelklagen in den USA so beliebt sind”, sagt der Anwalt. Im Gegenzug finanzieren die Kanzleien oft die Prozesskosten vor, im Verlustfall übernehmen sie die Kosten sogar ganz. Die Kläger tragen damit kaum ein Risiko, bekommen deshalb aber auch oft nur einen Bruchteil der Schadenssumme ausgezahlt. Im Glyphosat-Prozess etwa stehen jedem Kläger maximal auf 175.000 Dollar zu. Die beteiligten Großkanzleien hingegen dürfen sich über drei Milliarden Dollar freuen.

Auf der Jagd nach dem großen Geld geht es allerdings bisweilen selbst nicht immer rechtens zu. Jüngst überschritt ein Anwalt im Glyphosat-Prozess die Grenzen der Legalität. Der 38-jährige Timothy Litzenburg soll einem Pflanzenschutz-Zulieferer damit gedroht haben, ihn tief mit in den Klagesumpf hineinzuziehen. Mit öffentlichen Statements gegen die Firma würde er für ein “PR-Desaster” sorgen und einen “Kurssturz von 40 Prozent” auslösen.

Gegen 200 Millionen Dollar Schweigegeld, so Litzenburg damals, könne sich die Firma freikaufen. Die wiederum hatte die Drohgebärden mitgeschnitten und an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Ende Juni bekannte sich der Anwalt schuldig. Die Gier treibt den 38-Jährigen jetzt wohl selbst hinter Gitter.