“Das Gemisch, aus dem Gewalt entsteht”

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Randale wie in Stuttgart gibt es seit Jahrhunderten, so der Kriminologe Dirk Baier. Denn Männlichkeit und Alkohol sind ein explosives Gemisch. Die Corona-Regeln könnten dies befeuert haben. Droht das nächste Stuttgart?

DW: Herr Baier, warum sehen wir auf den Bildern von Gewaltausbrüchen meist junge Männer, egal, ob sie nun aus Stuttgart kommen, aus Dijon oder Den Haag?

Dirk Baier: Das ist ein Phänomen, das wir seit Jahrhunderten beobachten. Wenn Menschen gewalttätig Normen brechen, dann sind das eher die jungen Männer, die sich beweisen wollen, ihre Rolle in der Gesellschaft finden wollen. Dazu gehört auch, die Grenzen auszutesten. Außerdem halten sich junge Männer gern unter ihresgleichen auf, begeben sich in Gruppen in die Öffentlichkeit. Da finden dann gruppendynamische Prozesse statt, die Hemmschwellen so weit senken, dass Gewalt ausgeübt wird. In der Regel nicht gegen Polizisten, sondern eher unter untereinander. Das ist ein typisches Bild, das wir sehen, seit wir Statistiken zum Thema Gewaltkriminalität haben.

Ist meistens auch Alkohol mit im Spiel?

Der wichtigste Einflussfaktor für gewalttätiges Verhalten ist, sich in Gruppen mit Gleichgesinnten in der Öffentlichkeit zu bewegen. Vor allen Dingen auch in den Abendstunden. Wenn dann noch Alkoholkonsum dazu kommt, dann ist der Schritt zur Körperverletzung gar nicht mehr so weit. Alkohol baut nicht nur Hemmschwellen ab, sondern führt auch dazu, dass wir Hinweise von außen viel aggressiver interpretieren. Wenn wir Alkohol getrunken haben, dann sind wir viel schneller der Meinung, wir werden von jemandem angegriffen, angepöbelt und müssten uns dagegen wehren. Männlichkeit, Alkoholkonsum, in Gruppen unterwegs sein – das ist das Gemisch, aus dem Gewalt entsteht.

Professor Dirk Baier leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften‎

Es wird oft von einer “neuen Dimension” dieser Gewalt gesprochen. Ist sie häufiger geworden, brutaler?

Es hat in jedem Fall die Sensibilität für dieses Phänomen zugenommen. Über Vorfälle wie in Stuttgart spricht jetzt ganz Deutschland. Vor 25 Jahren wäre das möglicherweise in Baden-Württemberg ein Thema gewesen, aber hätte darüber hinaus nicht so intensive Diskussionen ausgelöst. Auch die Medienberichterstattung hat enorm zugenommen und prägt unsere Vorstellungen. Insgesamt können wir, wenn wir auf die Jugendgewalt schauen, positive Veränderungen feststellen. In den letzten 15 Jahren hat die Jugendgewalt in Deutschland etwa um die Hälfte abgenommen. Wir haben einen deutlich positiven Trend. Erst jetzt, die letzten drei, vier Jahre, sehen wir wieder Anstiege, wobei wir bei weitem noch nicht das Niveau von vor 15 Jahren erreicht haben.

Männer, Bier, Gewalt: Deutsche und englische Hooligans randalierten in Stuttgart während der Fußball-WM 2006

Haben Sie eine Erklärung für diesen Wiederanstieg?

Da sind wir noch nicht am Ende unserer Erklärung. Aber was wir durchaus feststellen: In den letzten fünf Jahren gab es wieder eine stärkere Zuwendung zum Alkohol. Es liegen Befragungen vor, die zeigen, dass auch das Rauschtrinken wieder zunimmt. Das war Anfang der 2000er ein Thema in Deutschland und das hat man dann mit Prävention sehr gut in den Griff bekommen. Und jetzt, in den letzten fünf Jahren, nimmt das wieder zu.

Vertreter der AfD sagen, dass Religion, Kultur und Herkunft eine Rolle spielten. Gibt es dazu wissenschaftliche Erkenntnisse?

Hier ist Differenzierung notwendig. Was wir aus der Forschung wissen ist, dass bestimmte Migrantengruppen eine höhere Gewaltbereitschaft aufweisen. In der Befragungen, die wir durchführen, zeigt sich, dass Jugendliche aus dem ehemaligen Jugoslawien oder auch türkischstämmige Jugendliche eine höhere Gewaltbereitschaft haben. Das hat aber damit zu tun, dass sie einen schlechteren sozialen Status haben, eine schlechtere Ausbildung und deshalb auch schlechtere Zukunftschancen. Das muss man unbedingt mit berücksichtigen, und wenn man das tut, dann ist der Unterschied nicht mehr groß. Eine kulturelle Gewaltneigung gibt es nicht, sondern es hat soziale Hintergründe, die dazu führen, dass bestimmte Gruppen eher auffällig sind, andere weniger auffällig.

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Zur Eindämmung der Corona-Pandemie galten und gelten Regeln, die Jugendliche einschränken. Kann auch das ein Faktor sein?

Ich denke, dass für den Ausbruch in Stuttgart die Corona-Vergangenheit der letzten Woche in jedem Fall eine Rolle spielt. Wir haben vor kurzem eine Befragung durchgeführt und wollten wissen, wie es den jungen Menschen während der Corona-Zeit ging. Sie haben ganz stark ihre Freunde, die Kontakte zu den Gleichaltrigen vermisst. Sie waren ja eingesperrt, ein Stück weit. Das hat zu Frustrationen geführt. Die trägt man noch mit sich herum und die können sich in solchen Ereignissen niederschlagen. Außerdem haben sich die Zukunftsaussichten mancher Jugendlicher verschlechtert. Manche sind vielleicht arbeitslos geworden, haben keine Lehrstelle erhalten. Und das verstärkt noch einmal die Frustration, die diese jungen Menschen haben.

Muss man deshalb mit weiteren Gewaltausbrüchen wie in Stuttgart rechnen?

Es kommt darauf an, was wir aus diesem Vorfall lernen. Die erste Lektion, die gelernt worden ist: Dass es genügend Polizei braucht im öffentlichen Raum, um die Sicherheit zu gewährleisten. Ich denke, Kontrolle ist jetzt erst einmal wichtig und Sichtbarkeit von Polizei, um die jungen Menschen einigermaßen ruhig zu halten. Und das wird jetzt in einigen Großstädten passieren. Von daher erwarte ich nicht, dass sich Stuttgart jetzt wiederholen wird. Aber langfristig verhindert das natürlich nichts. Wir müssen langfristig schauen, dass mit Sozialarbeit, mit Jugendarbeit die  jungen Menschen mit ihren Frustrationen abgeholt werden, dass man mit ihnen arbeitet. Und wenn dieser Schritt auch noch ergriffen wird, dann denke ich, dann haben wir das relativ schnell im Griff. Und dann rechne ich nicht damit, dass es ein zweites Stuttgart geben wird.

In Stuttgart wird ein Alkoholverbot für öffentliche Plätze diskutiert. Könnte auch das Schlimmeres verhindern?

Es sind ja jetzt alle händeringend dabei, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, damit sich das nicht wiederholt. Da wundert es mich nicht, dass alkoholfreie Zonen diskutiert werden, die auch rechtlich möglich sind. Aber das ist nur eine kurzfristige Strategie, um etwas zu befrieden. Das behebt das Problem nicht. Wenn man in Stuttgart in bestimmten Zonen nichts trinken darf, wird die Jugend auf andere Räume ausweichen.

Angriff auf die Polizei: Hooligans und Neonazis während einer Demonstration 2014 in Köln

Und wie sieht es mit härteren Strafen aus, etwa für Angriffe auf Polizisten?

Das interessiert die Jugendlichen überhaupt nicht. Sie wissen nicht, wie das Strafmaß ist. Und das ist für ihr Handeln völlig irrelevant. Wir müssen an die Jugendlichen ran. Wir müssen ihre Probleme wahrnehmen und ernst nehmen. Und wir müssen aufhören, so negativ über die Polizei zu sprechen. Das fand ich in den letzten zwei Wochen auch schlimm, dass wir darüber gesprochen haben, dass es eine rassistische, ungerechte, gewaltverherrlichende Organisation wäre. Das stimmt einfach nicht für die deutsche Polizei und es hat ein Stück weit ein Feindbild gefestigt unter den Jugendlichen. Auch das hat mit dazu beigetragen, dass wir jetzt solche unschönen Szenen hatten.

Als Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften‎ forscht Prof. Dirk Baier zu Jugend- und Gewaltkriminalität.
Das Gespräch führte Peter Hille.