Wegen Corona-Verbot: Cannes “empfiehlt” 56 Filme

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Wenige Produktionen aus Hollywood, ein Film über Rainer Werner Fassbinder und etliche Franzosen: Das Filmfestival Cannes fällt wegen Corona aus und verleiht stattdessen erstmals ein Gütesiegel.

Festival-Präsident Pierre Lescure (l.) und der künstlerische Leiter Thierry Frémaux

Das wichtigste Kino-Branchenereignis der Welt fällt in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie aus. Ursprünglich sollten die Festspiele in Cannes Mitte Mai stattfinden. Doch daraus wurde nichts. Für die Veranstalter eine Katastrophe – hatten Thierry Frémaux, künstlerischer Leiter von Cannes, und seine Mitstreiter doch schon viel Arbeit investiert. Der Plan, das Festival zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr auszurichten, wurde ebenfalls verworfen.

Auch der Sommer kam wegen der vielen durch die Pandemie hervorgerufenen Kontakt-Einschränkungen nicht in Frage. Im Herbst ist der globale Festivalterminplan eng getaktet. Den großen Festivals im September, vor allem Venedig und Toronto, wollte Cannes nicht den Rang ablaufen. Danach war es zu spät: Venedig, Toronto und Co. hätten bis dahin die prominentesten Filme und Regisseure bereits gekürt. Die Konkurrenz der Festivals untereinander ist hart.

Cannes will mit den 56 Filmen ein Zeichen setzen – für die Stärke des eigenen Festivals

Was also tun? Schließlich hatten die Veranstalter in Cannes bereits eine Menge Arbeit geleistet. Über 2000 Filme seien für das Festival eingereicht worden, teilte Frémaux am Mittwochabend in Paris mit. Man habe die Filme gesichtet. Dann kam das Aus. Einfach die Arbeit beenden und warten, bis die anderen Festivals weltweit die Crème de la Crème des Kinojahrgangs 2020 präsentieren – das hätte nicht zum Stolz der Franzosen gepasst. Schließlich empfindet man sich als das weltweit führende Festival des internationalen Kinos.

Wegen Corona-Pandemie kein Festival und keine Konkurrenz um die Goldene Palme in Cannes

Also entschloss die Festivalleitung, eine “Best-of”-Auswahl zu präsentieren: 56 Filme wurden ausgewählt, die in diesem Jahr ein sogenanntes Cannes-Gütesiegel bekommen. Natürlich werden die meisten dieser Filme dann doch auf anderen Festivals Premiere feiern – doch das Publikum soll wissen: “Das ist ein Film, der eigentlich im Mai in Cannes gelaufen wäre!”. Eine gewisse virtuelle Exklusivität ist dem Festival an der Croisette so zumindest gesichert.

Viele Cannes-Newcomer und Debütanten

56 Filme also haben Frémaux und seine Kollegen ausgewählt. Auf eine Kategorisierung in Wettbewerb und Nebenreihen haben sie dieses Jahr verzichtet: Wenn schon keine Goldene Palme 2020, dann auch keine Palmen-Konkurrenz, wird man sich in Paris gedacht haben. Bei der Präsentation der 56 Werke in der französischen Hauptstadt zog man eine andere Aufteilung vor: 14 Filme von Regisseurinnen und Regisseuren sind dabei, die bereits schon einmal in Cannes waren. Dazu kommen 14 Newcomer, 15 Debütfilme, drei Dokumentationen, vier animierte Filme, ein Gemeinschaftswerk mehrerer Filmemacher – und fünf Komödien.

Wes Andersons “The French Dispatch” mit Bill Murray

Auffallend wenige US-amerikanische Filme haben es in die Auswahl geschafft. Kult-Regisseur Wes Anderson dürfte der bekannteste aus den USA sein. Er ist mit “The French Dispatch” dabei, einer Story, die im Nachkriegs-Frankreich spielt und von den Geschehnissen in der Redaktion einer US-Zeitschrift erzählt. Vier andere US-Produktionen bekommen darüberhinaus das Cannes-Gütesiegel. Darunter auch der Trickfilm “Soul” von Regisseur Pete Docter.

Kein “richtiger” Roter Teppich – wenig Filme aus Hollywood

Ohne ein reales Festival, ohne eine große Show-Bühne scheint eine Teilnahme in Cannes für die großen Verleiher aus Hollywood weniger wichtig zu sein. Und das Festival selbst lenkt sein Augenmerk auf den künstlerischen Film. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass gleich zwei Werke des britischen Künstlers und Regisseur Steve McQueen dabei sind.

Der britische Regisseur und Künstler Steve McQueen

Der Oscar-Preisträger (“12 Years a Slave”) beschäftigt sich in seinen beiden neuen Filmen “Lovers Rock” und “Mangrove” mit der Diskriminierung dunkelhäutiger Bürger im London der 1970er und 1980er Jahre. Er widme die Filme dem von Polizisten in Minneapolis getöteten George Floyd und allen anderen “schwarzen Menschen, die ermordet wurden, sichtbar oder unbemerkt, für das, was sie sind, in den USA, England und anderswo”, erklärte der Afroamerikaner McQueen dazu.

Aus deutscher Sicht erfreulich, dass Oskar Roehlers “Enfant Terrible” dabei ist, eine filmische Biografie des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder, der 1982 starb und in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden wäre. “Enfant Terrible” ist einer der wenigen Filme sein, die Journalisten bereits kurz vor dem Corona-Lockdown in Pressevorführungen noch gesehen haben.

Deutschland wird von Oskar Roehler vertreten – und von Fassbinder

In dem Film spielt Oliver Masucci sehr überzeugend den ungemein produktiven Regisseur in dessen Anfangsjahren. “Die Bavaria Filmproduktion ist stolz zwei der größten deutschen Filmikonen in einem Film zu präsentieren: Rainer Werner Fassbinder, dessen Werk Filmemacher auf der ganzen Welt beeinflusst und Oskar Roehler, einen der innovativsten Filmemacher und Autoren, den dieses Land je hervorgebracht hat”, so Produzent Markus Zimmer in einer Stellungnahme.

Oliver Masucci spielt in “Enfant Terrible” Rainer Werner Fassbinder

Ansonsten fällt auf, dass sich besonders viele französische Regisseurinnen und Regisseure in der Auswahl wiederfinden. Laut Frémaux ist dies aber kein Zeichen für Nationalstolz, sondern Ausdruck der Stärke des französischen Kinos. Regisseur François Ozon, übrigens ein bekennender Bewunderer Fassbinders, führt mit “Eté 85” die Riege der Franzosen an – mit der Geschichte einer homosexuellen Freundschaft in der Normandie, die in den 1980er Jahren spielt.

Cannes blickt auch auf Kinonationen abseits des Film-Mainstreams

Doch Frémaux hatte bei seiner Auswahl auch das Weltkino im Auge. Das Cannes-Gütesiegel bekommen Filme aus Bulgarien, Georgien, Armenien, Litauen, dem Libanon, aus Ägypten und Israel sowie eine Produktion aus dem Kongo. Auch Süd-Korea ist mit zwei Produktionen vertreten. Die Kinonation erlebt gerade eine künstlerische Hochphase. “Parasite” von Bong Joon-ho hieß im vergangenen Jahr der große Sieger der Filmfestspiele in Cannes.

Sollte für Heiterkeit sorgen: “Soul” von Pete Docter

Nun wird sich in den kommenden Monaten zeigen, wie sich die 56 Filme aus aller Welt, die das virtuelle Cannes-Gütesiegel tragen, auf anderen Festivals und im ganz normalen Kinobetrieb schlagen. Frémaux und seine Kollegen werden das mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgen – und hoffen, dass 2021 die Filmemacher aus aller Welt wieder leibhaftig an der Croisette erscheinen und ihre Filme auf dem berühmtem Roten Teppich präsentieren.