Wie Frankreich die Corona-Pandemie besiegen will

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Nach der Lockerung der Corona-Beschränkungen setzt Frankreich jetzt auf mobile Teams und digitale Methoden, um die Pandemie weiter einzudämmen. Vor allem letztere stehen bei Datenschützern in der Kritik.

Ali Miladi mag weder Krankenhäuser noch Medikamente. Seit seinem 15. Lebensjahr hat er kaum eine Praxis von innen gesehen. Dennoch sitzt der 31-Jährige an diesem Dienstagnachmittag im Beratungszimmer des Covisan-Zentrums in dem Pariser Vorort Aubervilliers. Die Gemeinde liegt in Seine-Saint-Denis, Frankreichs ärmsten Département, das die Pandemie besonders hart getroffen hat. Seit einigen Tagen leidet der Besitzer eines Dönerladens an Muskelkater, Kopfschmerzen, Schwindelanfällen, Brechreiz und Durchfall. “Als man mir bei der medizinischen Hotline gesagt hat, ich hätte Corona, bin ich gleich hergekommen – schließlich ist das Virus richtig gefährlich,” sagt Miladi. “Außerdem hat mich motiviert, dass es ein städtisches Gebäude wie dieses gibt und ich nicht in ein gewöhnliches, anonymes Krankenhaus muss.”

Ali Miladi lässt sich im Covisan-Zentrum in Aubervilliers testen

Miladi ist einer von fast 400 Personen, die das Covisan-Zentrum in Aubervilliers schon getestet haben. Das Zentrum ist Teil der Strategie, mit der Frankreich die Pandemie bekämpfen und eine erneute Ausgangssperre verhindern will.

Individuelle Lösungen für jeden Hasuahlt

“Wir wollen für jeden betroffenen Haushalt eine individuelle Lösung finden, um die Weiterverbreitung des Virus zu verhindern”, erklärt Anaïs Anthonioz, Projektkoordinatorin in Aubervilliers. Corona-Infizierten wird vom Hausarzt oder der Apotheke empfohlen, das Covisan-Zentrum zu kontaktieren. Wenn es nötig erscheint – und die Kranken einverstanden sind – machen Zweierteams bei ihnen Hausbesuche. “Dabei können wir sehen, ob Familienmitglieder sich in Zimmern isolieren können und wer im Haushalt das Sagen hat. Es macht ja keinen Sinn, die Person ins Hotel zu schicken, die zuhause alles organisiert”, so Anthonioz. Ziel sei es auch, mögliche Kontaktpersonen zu finden und zu testen.

Covisan-Projektkoordinatorin Anaïs Anthonioz

Das Team in Aubervilliers ist Teil des vom öffentlichen Krankenhausverbund AP-HP organisierten Pilotprojekts, an dem insgesamt acht Zentren in und um Paris teilnehmen. Seit dem Start am 23. April wurden schon fast 4000 Menschen beraten und die Hälfte von ihnen getestet. Die Teams haben bisher über 860 Hausbesuche gemacht.

Erfolgreicher Kampf gegen Cholera in Haiti mit ähnlichem System

Angelehnt ist das Projekt an ein System, mit dem man in Haiti die Cholera ausgerottet hat, erklärt Jean-Sébastien Molitor von der Nichtregierungsorganisation Solidarités Internationales, der Covisan mitkonzipiert hat. “Unsere mobilen Teams haben in Haiti ganze Häuserreihen isoliert – das war nötig, um eine Stigmatisierung einzelner Häuser zu verhindern,” sagt er. “So haben wir schließlich über 80 Prozent der Infizierten isoliert und den Kampf gegen die Krankheit gewonnen.”

Covisan-Zentrum in Aubervilliers

Frankreichs Regierung will dieses Erfolgsrezept nun kopieren und hat im ganzen Land sogenannte “Covid-Brigaden” eingerichtet. Dazu gehören, wie in Aubervilliers, mobile Teams, aber auch Call-Center, organisiert von der staatlichen Krankenkasse CNAM. Die mobilen Teams sind teilweise noch im Aufbau, sollen sich um Einzelfälle, aber auch Cluster von Ansteckungen kümmern. Seit dem 13. Mai, zwei Tage nach den ersten Lockerungen der Ausgangssperre, arbeiten 6500 Menschen in den Call-Centern – ein Zehntel der landesweiten Mitarbeiter der CNAM. In den ersten zehn Tagen haben sie etwa 9000 Infizierte und 25.000 Kontaktpersonen erreicht.

“Wir wollen die Infektionskette unterbrechen”

In einem dieser Call-Center in Evry südlich von Paris ruft Sophie Merk einen 59-jährigen Mann an, den man vor kurzem positiv getestet hat. In dem Büro gelten die üblichen Abstandsregeln und so sitzen hier jetzt nur vier anstatt der normalerweise zwölf Mitarbeiter. Die Tische sind durch Plexiglasscheiben getrennt. An der Wand hängt ein Bildschirm, auf dem steht ‘Guten Morgen, Brigade!’.

Sophie Merk im Call-Center in Evry

“Guten Tag, ich rufe Sie an, um mit Ihnen zu besprechen, wie Sie sich isolieren können”, eröffnet Sophie Merk das Telefonat. Der Busfahrer am anderen Ende der Leitung erklärt, dass er seit Mitte März mit seiner Frau und zwei Kindern zuhause in Isolation ist. Merk informiert ihn, dass er umsonst Masken bekommen kann, und versucht, die Frau und einen der Söhne davon zu überzeugen, sich ebenfalls testen zu lassen. Doch diese lehnen das ab. “Sie haben Angst, dass der Test sehr unangenehm ist. Aber das ist nicht so schlimm: Sie gehen kaum vor die Tür und haben sowieso wenig Chancen, andere anzustecken”, erklärt die Beraterin später.

“Wir wollen die Infektionskette unterbrechen und die Menschen dazu anhalten, sich testen zu lassen, sobald auch nur der leiseste Verdacht auf Corona besteht,” sagt Merk. Sie hat sich sofort freiwillig gemeldet, als ihre Chefin ihr von diesem neuen Projekt erzählt hat. “Ich fühle mich hier nützlich – ich helfe dabei, die Pandemie zu besiegen”, sagt sie.

Nicolas Revel, Generaldirektor der CNAM, hält die “Covid-Brigaden” für notwendig, um eine erneute Ausgangssperre zu verhindern. “Durch den Lockdown konnten wir die Ansteckungsrate so weit senken, dass nun eine gezielte Isolation von Kranken möglich ist,” erklärt er. “Frankreichs Strategie scheint zu funktionieren und die Kurve sinkt weiter – auch, wenn wir noch abwarten müssen, wie sich die Situation in den kommenden Wochen entwickelt.”

Kritik an fehlendem Datenschutz

Doch ganz unumstritten ist die neue Strategie nicht. Das liegt vor allem an den digitalen Maßnahmen, die ebenfalls eingesetzt werden. Die Call-Center-Mitarbeiter können auf zwei neue Datenbanken zugreifen – positive Testergebnisse unterliegen nun einer Meldepflicht. In die Contact-Covid-Datenbank tragen Hausärzte die Namen und Kontaktdaten von Corona-Infizierten ein. Testlabors vermerken positive Test-Ergebnisse in einer zweiten Datenbank, der Sidep.

Die Corona-Tracing App soll helfen die Pandemie zu bekämpfen

Ein weiterer Baustein von Frankreichs Anti-Corona-Strategie ist die neue Smartphone-App, StopCovid, die die Regierung als eines der ersten europäischen Länder diese Woche einführt. Die Nutzung der App ist freiwillig und funktioniert über Bluetooth. Positiv Getestete können ihr Testergebnis mithilfe eines Barcodes oder einer speziellen Nummer in die App eintragen. Die App benachrichtigt dann Personen, mit denen man länger als fünfzehn Minuten Kontakt hatte und empfiehlt ihnen, sich ebenfalls testen zu lassen.

Gerade die Einführung von StopCovid hat für heftige Debatten gesorgt. Ärztevereinigungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und selbst Abgeordnete der Regierungspartei haben sich dagegen gestellt – auch, weil sie Angst haben, die Anwendung könnte gehackt werden. Datenschützer vertrauen nicht darauf, dass die App tatsächlich nach der Corona-Krise wieder gelöscht wird.

Anonymisierte Daten?

“Nach den Terroranschlägen von 2015 wurde der Ausnahmezustand sechs Mal verlängert und schließlich ins Allgemeinrecht übertragen – wie kann man denn da glauben, dass diese App nach der Krise nicht für andere Zwecke genutzt wird?” sagt Neha Oudin von der NGO Quadrature du Net, die sich für Bürgerrechte einsetzt. “Außerdem bringt die App nur bedingt etwas – schließlich haben ältere Menschen das größte Risiko, aber genau die haben oft kein Handy.”

Oudin ist auch skeptisch, was die neuen Datenbanken angeht. Zwar sollen die Daten nach drei Monaten gelöscht werden. Doch die positiven Testergebnisse von Sidep werden auf dem sogenannten Health Data Hub bleiben, wo sie anonymisiert für statistische Zwecke genutzt werden sollen. “Dieser relativ neue Regierungsserver ist auf einem Microsoft-System, was bedeutet, dass auch das amerikanische Unternehmen Microsoft die Entschlüsselungscodes dafür besitzt,” sagt Oudin. “Da kann doch die amerikanische Regierung ganz einfach die Herausgabe der Daten erzwingen und an die CIA und andere Organisationen weitergeben. Das ist eine Gefahr für unsere Persönlichkeitsrechte.”

Darüber hinaus hält Oudin die Anonymisierung solcher Daten kaum für möglich. “Die Einträge beinhalten die individuelle Krankengeschichte der Covid-Infizierten”, erklärt er, “und damit lässt sich die Identität der Leute leicht herausfinden.”