Fasten und Netflix: Ramadan in Corona-Zeiten

0
245

Der Ramadan ist eigentlich eine Zeit gemeinsamer Rituale. Doch die Corona-Pandemie zwingt zum Umdenken und besonderer Nachdenklichkeit. Zu Besuch bei einer muslimischen Familie in Berlin während des Fastenbrechens.

“Es ist schon wichtig, im Kreise der Familie zu feiern.” Sagt der Vater und einige Minuten später auch der jüngste Sohn. Iftar-Essen bei Familie Bag in Berlin. Das allabendliche Fastenbrechen während des muslimischen Fastenmonats Ramadan, der in diesem Jahr bis zum 23. Mai dauert. Es gibt köstliche und doch einfache Küche in drei Gängen. Und wie das für viele gesellschaftliche Bereiche in Deutschland gilt: Auch beim Iftar hat sich vieles geändert.

Gastgeber Süleyman Bag

“Eigentlich wäre das ein Anlass für Begegnungen”, sagt Vater Süleyman Bag. In jedem anderen Ramadan hätten sie mindestens an einem Abend pro Woche Gäste zum festlichen Essen. An einem weiteren Abend seien sie wiederum bei einer befreundeten Familie eingeladen. Ein oder zwei Abende feierten sie in Vereinen oder nähmen bei einem öffentlichen Iftar-Essen teil. “Das fällt in diesem Jahr alles weg. Das ist traurig”, sagt der 52-Jährige. So sind Süleyman Bag und seine Frau Lütfiye, die Söhne Selim (20) und Enes (21) sowie Tochter Rumeysa (25) fast den ganzen Tag daheim. Auch der sonst übliche Gang zur Moschee ist gestrichen.

Vorbereitung auf “freiwilligen Hunger”

Der Tag ist lang bei den Bags. Um kurz nach drei Uhr morgens seien sie aufgestanden, sagt Enes. Das erste Gebet, danach noch etwas Bettruhe. Über den Tag verteilt gelten fünf Gebetszeiten. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang keine Speisen, keine Getränke. Es gebe, erläutert der Vater, im Islam “durchaus eine Philosophie des freiwilligen Hungers”, die bis auf die Zeit des Propheten Mohammed zurückgehe.

Video ansehen 02:34 Teilen

Ramadan mit Corona-Beschränkungen

Versenden Facebook Twitter google+ Tumblr VZ Xing Newsvine Digg

Permalink https://p.dw.com/p/3btLV

Ramadan mit Corona-Beschränkungen

Wie es bei frommen Muslimen üblich sei, bereite er sich schon vor dem Ramadan mit Fasten auf diese besondere Zeit vor. “Wenn dein Magen leer ist, ist dein Herz weich”, zitiert er einen Gelehrten. Er selbst war mal Bergmann, dann Journalist, heute arbeitet Bag in der Verwaltung eines Kindergarten-Trägers.

Die Sorge um den Vater

Wenn man ihn fragt, wo er herkomme, antwortet er prompt “Gelsenkirchen”. Als knapp Siebenjähriger kam Süleyman Bag mit seinen Eltern aus der Türkei nach Gelsenkirchen. In der Ruhrgebietsstadt fand er Freunde, besuchte die Schule und ging wie so viele dort in den Bergbau. Als er über seine Eltern spricht, wird er sentimental. Bag erzählt von der Sorge um seinen 74-jährigen Vater, der wöchentlich dreimal an die Dialyse müsse. Einer der anderen Patienten sei am Coronavirus erkrankt. Der Vater musste deshalb für Wochen in Quarantäne. “Wir hatten so Angst um ihn”, sagt er. Und wiederholt den Satz noch mal.

Moscheen sind zwar zum Gottesdienst wiedereröffnet, aber nur unter Auflagen. Für die meisten Muslime entfällt aufgrund der Begrenzungen ein Moschee-Besuch

Bags Ehefrau kam 1989 nach Deutschland und spricht nur gebrochen Deutsch. Die drei anwesenden Kinder sind alle im Studium an der Uni oder in der Ausbildung an der Berufsfachschule. Rumeysa, mit Kopftuch wie ihre Mutter, lernt an der Freien Universität Berlin für den Master-Abschluss in Islamwissenschaften und erwägt eine Promotion. Der eine Bruder will Erzieher werden, der andere studiert Germanistik und Geschichte auf Lehramt.

Streamingfilme und Gebete

Nach den ernsten Themen wird das Gespräch beim Essen immer lockerer. Auf die Frage, wer aus der jüngeren Generation Netflix schaue, hebt sich eine Hand, dann die zweite, schließlich die dritte. “Aber nur ab und zu”, schränkt die Tochter ein. “Na, Du schaust mehr als ab und zu”, entgegnet der ältere Bruder. Er ist es, der vor dem Essen gut eine Minute lang auf Arabisch leise den Gebetsruf spricht. Damit wird der Fastentag um Punkt 20.56 Uhr beendet. Später, beim gemeinsamen Abendgebet der Familie, stimmt der Vater das Gebet an.

Muslime in Deutschland, Corona und dann der Ramadan: Diese vierwöchige Festzeit, die oft tagsüber fromm und abends laut und gesellig gefeiert wird – die wenigsten haben damit gerechnet, dass ein anderer, ruhiger Ramadan gelingen könnte. Für Unruhe in Deutschlands Städten sorgen die Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen. Dagegen gibt es keine Protest-Aktionen der mehr als 4,5 Millionen Muslime in Deutschland.

Lob von Bundespräsident Steinmeier

Am vorigen Sonntag bedankte sich Bundespräsident Steinmeier bei den Kirchen und Religionsgemeinschaften für ihren Umgang mit der Coronakrise. Von Anfang an hätten sie sich verantwortungsvoll und umsichtig verhalten. Dabei hatte die größte deutsche Boulevardzeitung Bild nur eine Woche vor Beginn der muslimischen Fastenzeit getitelt: “Kirchen aus Angst vor Ramadan-Chaos geschlossen”.

Bundespräsident Steinmeier mit Ehefrau Elke Büdenbender beim Gottesdienst in der evangelischen St. Marienkirche in Berlin – den Gottesdienst durften maximal 50 Gläubige besuchen

Einige Politiker aus dem rechten Lager griffen das auf. Und nun? Auf muslimischer Seite bleibt es friedlich. Es boomen digitale Angebote im Netz, Freitagsgebete, Predigten, Vorträge. Selbst der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Abdassamad El Yazidi, zeigt sich beeindruckt von der Disziplin. “Ich habe schon damit gerechnet, dass ein Großteil der Muslime angesichts der Corona-Pandemie die Regularien zum Gesundheitsschutz einhält”, sagt Yazidi der Deutschen Welle. “Aber dass es so diszipliniert abläuft, hat mich selbst überrascht. Sie wissen um ihre Verantwortung, und sie nehmen sie wahr.”

Zwischen Einsamkeit und Zusammenhalt

Zurück zum Iftar-Tisch der Bags im Norden Berlins. Die Rede kommt auf eine Moschee im Berliner Süden, vor der sich zu Ramadan-Beginn einmal entgegen der Weisungen hunderte Muslime versammelt hatten – der einzige Zwischenfall in Berlin. “Man muss es auch verstehen”, sagt Selim, der jüngste Sohn. Wegen der Moschee-Schließung sei der Gebetsruf über Außen-Lautsprecher erlaubt worden. Erstmals. “Da waren die Muslime dort geflashed. Aber das hat sich schnell gelegt.”

Iftar in Corona-Zeiten. “Das ist einerseits wirklich sehr traurig”, sagt der Vater. “Wir können keine Gäste einladen. Andererseits ist da doch die Familie.” Man merke seine Einsamkeit, dafür spüre man den Zusammenhalt. “Vielleicht wird uns dieses Iftar-Essen in besonderer Erinnerung bleiben”, sagt Herr Bag beim Abschied. “Sie waren unser einziger Gast in den ganzen vier Wochen.”