Coronavirus: Ein Land vor dem Lockdown

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Soziale Kontakte können tödlich sein. Auch in Deutschland gelten deshalb immer strengere Regeln, die das Leben der Menschen einschränken. Das ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein Rundgang durch Bonn.

Auf dem Bonner Münsterplatz sind leere Tische an warmen Frühlingstagen ein eher seltenes Bild

Vereinzelungsanlage. Ein echt deutsches Wort für Drehkreuze und ähnliche Gatter, die Zutritt beschränken. Romeo Bertolini steht vor einer solchen Anlage, er will gerade durch das Drehkreuz vor dem Klimasekretariat der Vereinten Nationen in Bonn. “Ich hole nur noch schnell meinen Computer, meine Maus, meinen Bildschirm”, sagt er. Denn ab sofort ist Homeoffice angesagt. “Und zu Hause warten die Kinder, sie haben Hausaufgaben geschickt bekommen, da ist Hilfe gefragt.”

Das Drehkreuz kommt heute kaum in Schwung. Bertolini ist einer der wenigen, die noch im Büro vorbeischauen. Denn Vereinzelung ist nun nicht nur an Eingangstüren gefragt. Ein ganzes Land soll sich vereinzeln, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Kanzlerin Angela Merkel hat deshalb “einschneidende Maßnahmen” verkündet. Die Menschen sollen möglichst zu Hause bleiben, Kontakt zu anderen meiden. Die Schulen sind zu, Bars werden geschlossen, Spielplätze, Theaterbühnen, Kinos und Sporteinrichtungen. Urlaubsreisen sind nicht mehr möglich. Nur noch wichtige Geschäfte bleiben offen.

Freiheit in Schranken

Zumindest ein “bisschen mulmig” sei ihm zumute angesichts dieser Situation, sagt Bertolini und verschwindet durch die Vereinzelungsanlage. Das Gebäude, das er betritt, hat Geschichte. Hier wurde vor fast 71 Jahren das Grundgesetz der Bundesrepublik verabschiedet. Seitdem genießen die Deutschen unabänderlich: die Freiheit, sich zu versammeln, ihre Religion auszuüben in Gottesdiensten, die Freizügigkeit, zu gehen, wohin sie möchten. All das wird nun eingeschränkt, so massiv wie nie zuvor.

Arbeitet demnächst wie viele andere Berufstätige in Deutschland von zu Hause aus: Romeo Bertolini

1968 wurde das Grundgesetz geändert, um im Notfall, etwa “zur Bekämpfung von Seuchengefahr”, Grundrechte beschränken zu können. Notstandsgesetze hieß das und es stieß auf Widerstand. Steine flogen, Polizisten knüppelten und am 11. Mai protestierten 50.000 Menschen im Bonner Hofgarten vor der Universität. Die Wiese dort dient seit dem Wegzug der Regierung nach Berlin eher der Naherholung der Studenten. Heute ist am Vormittag trotz strahlenden Sonnenscheins nichts los. Ein Mann spaziert einsam auf und ab, in der Hand ein Joint. Endzeitstimmung? “Ne, ich mach einfach nur Pause. Lassen Sie mich mal in Ruhe”, sagt er. “Ich gehe gleich wieder zurück ins Büro.”

Kniebeugen im Hausflur?

Am Kaffeestand vor der Uni stehen noch ein paar Frauen mit bunten Schals und warten auf ihren Cappuccino. Doch alle spüren, es ist ein letztes Aufbäumen der Normalität. Die Uni hat den Start des Semesters auf Ende April verschoben. Ob sich der Termin halten lässt? Geht es im selben Tempo weiter wie zuletzt, dann sind Ausgangssperren wie in Italien oder Frankreich wohl nur noch eine Sache von Tagen. Corona könnte nur eine Randnotiz werden in der Geschichte der Bundesrepublik. Man darf hoffen. Aber kein Politiker will sich vorwerfen lassen, die Gefahr, das Ausmaß dieser Bedrohung unterschätzt zu haben.

Sport in Corona-Zeiten? Noch gehören Jogger am Rhein zum Stadtbild

Unten, am Rhein, rennen die Jogger trotzdem noch die Uferpromenade entlang – oder vielleicht gerade, weil das bald verboten oder zumindest verpönt sein könnte. “Eigentlich wollten wir ins Fitnessstudio”, sagen Florian, 30 Jahre alt, und Johannes, 31. “Aber da dürfen wir ja nicht mehr hin.” Ob bald nur noch im Hausflur Kniebeugen machen? “Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist”, sagt Florian. Und ab, die Schuhsohlen klatschen auf den Asphalt, der Rhein schwappt gegen das steinerne Ufer. Seit 200 Jahren ist der deutsche Strom eher ein Kanal. Vorher kämpften schon die römischen Statthalter mit Malaria in den Sümpfen, die Fürsten und Bischöfe später mit der Pest. Nach dem ersten Weltkrieg kam noch die Spanische Grippe vorbei. Seitdem sind Seuchen in Deutschland ein Wort für Geschichtsbücher. Waren.

Zu, geschlossen, abgesagt

Auf dem Münsterplatz im Zentrum Bonns schaut Beethoven ernst von seinem Sockel herab. Die Konzerte zu seinem 250 Geburtstag: abgesagt. Zu seinen Füßen schiebt Yven Stühle und Tische auseinander. “Anordnung der Stadt, zwei Meter Abstand”, sagt der Mann, der hier im Restaurant arbeitet. Nur noch bis 15 Uhr statt wie sonst bis Mitternacht darf überhaupt bedient werden. Bald könnte ganz Schluss sein. Yven hat auch dafür Verständnis. “Ich bin Diabetiker, gehöre zur Risikogruppe.”

Wann die Gemeinde der Bonner Kreuzkirche wieder zusammenkommen kann, weiß Küster Viktor Hermann nicht

Vielleicht ein Gebet in diesen Zeiten? Der Backsteinturm der Kreuzkirche ragt hell, schlicht, neugotisch in den blauen Himmel. Aber die Tür ist verschlossen. Küster Viktor Herrmann bringt gerade ein Schild an: “Kirche und Gemeindehaus bleiben bis auf Widerruf zu”, steht darauf. Ostern dürfte wohl in Wohnzimmern gefeiert werden wie zur Zeit der ersten Christen. Himmelfahrt? Pfingsten? Soweit kann gerade niemand denken.

Alles plötzlich anders

Also nochmal zurück in die Vergangenheit: Exakt heute vor 75 Jahren wurde in Bonn zuletzt eine Ausgangssperre verhängt. Auf Anweisung der US-Amerikaner, die gerade einmarschiert waren, um Stadt und Land vom Virus des Nationalsozialismus zu befreien. Vielleicht haben sie sogar Lockdown gesagt damals. Das Wort geistert jetzt wieder durch die Straßen. Aber wer die Situation jetzt mit dem Krieg vergleicht, der hat vermutlich keinen Krieg erlebt.

Die Verunsicherung angesichts der Corona-Pandemie erinnert Doris Eschweiler an den Beginn des Zweiten Weltkriegs

“Oh, doch”, sagt Doris Eschweiler. Zumindest die Stimmung zu Beginn des Krieges erinnere sie an heute, so die 95-Jährige. “Diese Ungewissheit, was kommt jetzt, die war ähnlich. Denn da war auch mit einem Mal alles anders.” Sie war 14 Jahre, als es losging.  “Zuerst fanden wir es schön, dass die Ferien verlängert wurden. Aber wir wussten ja noch nicht, was auf uns zukam.”

Vereinzelt, aber nicht allein

Seit 95 Jahren lebt Eschweiler im selben Haus im Bonner Süden. Sie saß im Keller, als die Bomben fielen. Nachts britische, tagsüber amerikanische. Sie hörte die Einschläge näher kommen. Eine Brandbome traf das Schlafzimmer ihrer Eltern. Fürchtet sie wieder um ihr Leben? “Ich bin alt, ich bin sowieso überfällig”, sagt sie und schaut aus ihrem Fenster hinab auf die Straße. “Irgendwann muss es für mich auch vorbei sein. Ich habe keine Angst davor. Aber ich gehe natürlich nicht mehr vor die Tür.” Die Seniorin bekommt ihre Lebensmittel gebracht – Hilfe wird normal in Zeiten der Coronakrise. 

Im Lauf von 75 Jahren ging es fast nur aufwärts in diesem Land. Generation um Generation wuchs auf in Freiheit, Wohlstand, Sicherheit. All dies scheint gerade gefährdet – und sei es nur für ein paar Wochen oder Monate. Aber vielleicht ist es die verordnete Vereinzelung, die die Menschen in Deutschland gerade zu einer Gemeinschaft werden lässt.