Wie es ist, in der Ukraine im Krieg zu leben

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Zwischen ausgebombten Häusern und Minenfeldern versucht eine Familie in der Nähe von Donezk ein normales Leben zu führen. Der Film “The Earth Is Blue as an Orange” zeigt, wie schwierig das ist.

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Ein Leben im Krieg: “The Earth Is Blue an an Orange”

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Film über den Krieg in der Ukraine: “The Earth Is Blue an an Orange”

Für Myroslava bedeutet der Krieg vor ihrer Haustür Leere: “Alle deine Freunde sind weg. Die Stadt ist verlassen. Alles, was vorher laut und vertraut war, ist auch leer”, spricht sie mit ruhiger Stimme in die Kamera. Ihre Mutter Ganna sitzt daneben und hört ihr zu. 

Es war die Entscheidung der alleinerziehenden Mutter, mit ihren vier Kindern in Krasnohorivka, rund 40 Kilometer westlich von Donezk, zu bleiben, als die Kämpfe zwischen pro-russischen Separatisten und der ukrainischen Armee 2014 ausbrachen.

“Ich habe ihnen die Chance auf ein ruhiges Leben genommen”

“Ich habe ihnen die Chance auf ein ruhiges Leben genommen”, beginnt Ganna, als sie selbst im Lichtkegel vor der schwarz verhängten Wand sitzt und die Kamera läuft. “Aber wir hätten auch nicht gehen können. Ich hätte nirgendwo anders leben können, wenn ich gewusst hätte, dass meine Eltern hier sind, dass meine Schwester hier ist. Jemand muss bleiben, um die Stadt wieder aufzubauen.”

Die Familie von Vladyslav dreht einen Film über sich – und Iryna Tsilyk eine Doku über die Familie

Die Aufnahmen haben nicht etwa die ukrainische Regisseurin Iryna Tsilyk und ihr Team gemacht, in deren Dokumentarfilm “The Earth Is Blue as an Orange” sie zu sehen sind, sondern die Familie selbst:

Myroslava und ihre Schwester Anastasiia Trofymchuk haben das “Yellow Bus”-Camp besucht, in dem Filmemacher wie Iryna Tsilyk für Jugendliche an der Kriegsfront der Ostukraine Film-Workshops geben. Eigentlich plante Tsilyk, eine Doku über das Camp zu drehen.

“Dann haben Myroslava und Nastya mich und mein Team in ihre Heimatstadt eingeladen, wo wir uns sofort in ihre kleine Welt verliebt haben. Dann haben wir beschlossen, einen Film über ihre Familie zu drehen”, sagt Tsilyk im DW-Interview.

Eine Filmproduktion mit der ganzen Familie

Iryna Tsilyk bei den Dreharbeiten für “The Earth Is Blue as an Orange”

Die Schwestern waren so motiviert durch das Camp, dass die einen eigenen Film über ihre Familie drehten. Und so begleitetet Tsilyk die Familie über ein Jahr dabei, wie sie als Familienproduktion (Myroslava filmt, Nastya leitet die Aufnahmen, Mutter Ganna schneidet, die kleinen Brüder Vladyslav und Stanislav dürfen hier und da die Filmklappe zuschnappen lassen), einen Film über ihr Leben an der Front dreht.

Tsilyk und Viacheslav Tsvietkov an der Kamera haben Bilder eingefangen, die zeigen, dass der Alltag der Familie keineswegs grau ist.

An Weihnachten schmückt die Familie einen wild leuchtenden Baum, es wird viel gelacht, zusammen gegessen und Tee getrunken, musiziert – mit Saxophon, Akkordeon, Klavier und Ukulele hätte die Familie ebenso eine Band aufmachen können. “Ganna kämpft jeden Tag für diese Normalität”, beschreibt es Tsilyk.

Wenn entfernt Explosionen zu hören sind, nehmen die Familienmitglieder das noch nicht einmal wahr, wenn sie gemeinsam vor dem Fernseher liegen und Schwarz-Weiß-Filme schauen.

“Das ist ganz schön komisch und irgendwie surreal für Menschen, die dort mit einem frischen Blick hinkommen: Schon kleine Kinder wissen anhand der Geräusche, wann Beschuss gefährlich ist und wann nicht. Und wenn du selbst immer wieder dorthin kommst, merkst du, dass du dich ebenfalls daran gewöhnst”, sagt Tsilyk.

Das Nebeneinander von Geborgenheit und Gefahr, von Alltag und Krieg – genau diese Brüche sind es, worauf es Tsilyk abgesehen hat.

Ein Film mit surrealer Poesie

Als Myroslava ihren Schulabschluss macht (und danach beginnt, Kamera zu studieren), posiert sie mit einer Urkunde vor der zerbombten Schule – das Meer der roten Mohnblüten, die sich seicht im Wind wiegen, ist in Wahrheit ein Minenfeld, das nicht betreten werden darf.

Die Bilder, die teils an Stillleben mit Verweis auf eine besser Welt erinnern, lassen durchscheinen, dass Tsilyk nicht nur Filmemacherin ist, sondern ebenfalls Poesie und Prosa schreibt, mit der sie sich bereits über die Grenzen der Ukraine hinaus einen Namen gemacht hat.

Noch fliegt die Laterne…

Mit ihrem ersten Langfilm “The Earth Is Blue as an Orange” hat sie beim diesjährigen Sundance Film Festival den Preis für die Beste Dokumentarfilm-Regie in der Sparte “Weltkino” abgeräumt.

Bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin, wo der Film seine Europapremiere feierte, wird Tsilyk von Myroslava und Nastya begleitet.

Ein Film, der die Seele heilt

“Die Filmproduktion hat uns tatsächlich geholfen, uns zu entspannen und auszusprechen, sozusagen”, sagt die 16-jährige Nastya, die in Zukunft wie ihre Schwester beruflich beim Film arbeiten will. “Wenn man seine Probleme artikuliert, treten sie etwas in den Hintergrund und so, durch unsere Lieblingsbeschäftigung, durch das Filmemachen, haben wir unsere Seele geheilt.”

“Wir wollten uns vor allem aussprechen, über unsere Region erzählen, denn nicht unsere ganze Region, wird durch den Krieg beherrscht, was gut ist”, ergänzt ihre zwei Jahre ältere Schwester Myroslava. Sie hätten mitteilen wollen, was ihnen auf dem Herz liege.

Die Familie spielt nach, wie sie beim Bombardement 2014 im Keller Schutz gesucht hat

Was das alles sein muss, lässt sich erahnen, wenn die Familie nachspielt, wie sie sich bei einem Bombenangriff im Keller versteckt, wie der kleine Bruder Stanislav beschreibt, was Krieg für ihn bedeutet: “Das ist, wenn Leute schießen. Und andere Leute erschießen die, die zuerst geschossen haben. Wenn sie anfangen zu schießen, weckt uns Mama auf und wir gehen auf den Flur. Wenn sie stoppen, gehen wir wieder schlafen.”

Der Krieg in der Ukraine als kollektives Trauma

Für Tsilyk ist der Film aber nicht nur eine familiäre Traumabewältigung: “Ich bin mir sicher, dass auch ich traumatisiert bin. Und nicht nur ich – der Krieg ist doch ein großes, kollektives Trauma”, sagt sie. “Alles, was ich in den vergangenen sechs Jahren gemacht habe, war irgendwie mit dem Krieg verknüpft.” 

Bei den Dreharbeiten im Wohnzimmer: Bewältigung eines Traumas

Ihr Mann, der Schriftsteller Artem Chekh, habe als Soldat in der ukrainischen Armee dienen müssen: “Das war eine wirklich prägende Erfahrung für unsere Familie, für unseren Sohn. Du bist eine Frau des 21. Jahrhundert, die darauf wartet, dass ihr Mann aus dem Krieg zurück kommt. Das ist etwas, das dein Leben komplett verändert.”

13.000 Menschen sind nach UN-Schätzungen in den Kämpfen der Ostukraine bisher gestorben und es wird noch immer gekämpft: Das Minsker Abkommen hat die Region zwar beruhigt, seine Umsetzung erleidet aber immer wieder Rückschläge.

Welch starke Emotionen die Familienfilmproduktion bei der Präsentation in Krasnohorivka bei den Zuschauerinnen und Zuschauern ausgelöst hat, zeigt die letzte Szene von “The Earth Is Blue as an Orange”.

Zufrieden sind die Filmemacherinnen trotzdem nicht. Sie haben beschlossen, noch weiter daran zu feilen. Nach “The Earth is Blue as an Orange” habe Tsilyk auch Zeit, ihnen dabei zu helfen. “Ich hoffe, dass sie auf weitere Festivals kommen – dann selbst als Teilnehmerinnen”, sagt Tsilyk und man spürt, wie aus dem Film über das Leben im Krieg, Bande der Freundschaften gewachsen sind.