Vor 100 Jahren im Kino: “Das Cabinet des Dr. Caligari”

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Robert Wienes Stummfilmklassiker veränderte die Kino-Geschichte. Noch heute gilt der expressionistische Film als bahnbrechendes Werk. Wie er zu deuten ist, darüber streiten die Historiker bis heute.

Starke schwarz-weiß Kontraste, eine Welt der Schatten und der Schwärze. Kantige Studiobauten und monströse Zeichen an der Wand. Schiefe Blickwinkel und Perspektiven. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Dazwischen zucken Darsteller durch die Räume, panisch auf der Flucht, getrieben von sichtbaren wie eingebildeten Schrecken. Das ist der Film “Das Cabinet der Dr. Caligari”, uraufgeführt vor 100 Jahren, am 27. Februar 1920 im Berliner Filmtheater “Marmorhaus”.

“Das Cabinet des Dr. Caligari” erschreckte die Zuschauer

Es muss eine beunruhigende Premiere gewesen sein. Beunruhigend für die anwesenden Zuschauer, weil hier ein Stummfilm über die Leinwand flackerte, den es so zuvor noch nicht gegeben hatte: erschreckend und surreal, düster und scheinbar ausweglos. Es wurde eine denkwürdige Aufführung. Im Nachhinein auch, weil dieser deutsche Stummfilm vieles veränderte. “Das Cabinet des Dr. Caligari” entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Filmwerke überhaupt.

Scharfe Kanten und Konturen: “Das Cabinet des Dr. Caligari”

Heute gilt der Film von Regisseur Robert Wiene als früher Höhepunkt des Expressionismus. In der bildenden Kunst hatte der Expressionismus schon ein paar Jahre früher Fuß gefasst, dort waren es auch deutsche Maler und Grafiker, die den Stil prägten: wie Ernst-Ludwig Kirchner oder Max Pechstein. Expressionistische Kunst, das war eine Gegen-Kunst: gegen Naturalismus, gegen Impressionismus, gegen die weichen Linien. Auch in der Literatur und in der Musik, beim Theater und beim Tanz gab es in jenen Jahren expressionistische Entwicklungen.

Berühmt: der expressionistische Film aus Deutschland 

Film und Kino aus Deutschland setzt damals Maßstäbe in der Welt. Die 1920er Jahre wurden zur Glanzzeit dieser Stilrichtung in den Lichtspielhäusern. Neben “Das Cabinet des Dr. Caligari” schafften es Werke wie “Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens”, “Der Golem und wie er in die Welt kam” oder “Dr. Mabuse” in den Kino-Olymp. Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau waren – neben Komödien-Regisseur Ernst Lubitsch – die bekanntesten deutschen Filmemacher, die dem heimischen Kino zu Weltgeltung verhalfen. Ihre Filme beeinflussten das europäische und vor allem das Hollywood-Kino. Die drei deutschen Regisseure gingen – wie viele andere deutsche Künstler – später in die USA.

Eine aktuelle Ausstellung in Berlin zeigt Erfolg und Einfluss des berühmten Films

Der Regisseur Robert Wiene mag nicht ganz so bekannt geworden sein, dafür gibt es kaum ein anderes Filmwerk, das an Ruhm übertroffen wurde: “Das Cabinet des Dr. Caligari” prägte das phantastische Kino, den Horrorfilm, den Film Noir – bis heute. In den 1960er Jahren wurde der Stoff in den USA neu verfilmt ,und US-Regisseure späterer Generationen wie David Lynch oder Tim Burton ließen sich von “Caligari” beeinflussen.

Neuartige Film-Ästhetik 

Wie ist das zu erklären? Die Form, das Zerklüftete, die scharfen Kontraste, die zackigen Linien und Bauten, die sich bis in die Zwischentitel fortsetzen, das war das eine: Die Form spiegelte die Seelenlage ihrer Protagonisten wider. Dramatisch wirkende Film-Bauten wurden zu Psychogrammen der Charaktere. Form und Inhalt verschmolzen. Besser konnte das Medium Film damals nicht erzählen. Dafür brauchte es noch nicht einmal Sprache und Ton – nur Bilder und Musik.

Jahrmarkts-Turbulenzen: “Das Cabinet des Dr. Caligari”

Doch wie war es mit dem Inhalt? Die Geschichte, die “Das Cabinet des Dr. Caligari” erzählt, ist das andere Element und sehr komplex. Im Kern geht es im Hauptteil des Films (der von einer Rahmenhandlung eingefasst wird) um ebenjenen Dr. Caligari: einen Wissenschaftler, der auf Jahrmärkten einen Schlafwandler zur Schau stellt, diesen über geheimnisvolle Kanäle “steuert” und morden lässt.

Am Ende stellt sich die Frage: Wer ist hier wahnsinnig?

Zwei junge Männer und eine Frau sehen dem Treiben zu. Einer wird von dem Schlafwandler getötet. Die Protagonisten, auch Polizei und Ärzte, versuchen Caligari zu fassen. Doch am Ende entpuppt sich Caligari als Leiter einer Irrenanstalt. Sind die anderen wahnsinnig? Oder ist es Caligari, der sich, besonders perfide, über Vernunft und Ratio hinwegsetzt und die Welt zu seinen Zwecken manipuliert?

Am Ende stellt sich die Frage: Wer gehört in die Zwangsjacke?

Es bleiben Fragen. Auch heute noch: Man kann “Das Cabinet des Dr. Caligari” noch so oft sehen, so ganz kommt man dem Film nicht auf die Schliche. Auch das macht seinen Reiz aus. Und so bissen sich die Interpreten und Experten an Robert Wienes Werk die Zähne aus. Die berühmtesten Publizisten und Filmhistoriker der Zeit versuchten sich an zahllosen Deutungen und Interpretationen.

Wieviel Hitler steckt in Caligari?

“Von Caligari zu Hitler” hieß das wohl berühmteste und zeitweise einflussreichste deutsche Film-Buch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Geschrieben hatte es Sigfried Kracauer (1947 erschien es zunächst auf Englisch). Kracauers These: Wiene und seine Drehbuch-Autoren hätten schon damals, zu Beginn der 1920er Jahre, den Aufstieg der Nationalsozialisten vorausgesehen: In Filmen wie “Caligari” seien Typen und Methodik der Nazis angelegt. Unbewusst hätten auch andere Regisseure und Drehbuchautoren Filmcharaktere für die Leinwand entworfen, die dann ab 1933 in der Wirklichkeit ihr Unwesen getrieben hätten. Der These wurde später, zumindest in Teilen, widersprochen.

Die Caligari-Ausstellung in Berlin zeigt Einfluss in Kino, Kunst und Kultur

Doch es ist nicht zu übersehen, wie gerade das deutsche Kino in jenen Jahren die Leinwände mit Schreckens- und Horrorgestalten bevölkerte, wie sie Mörder und Tyrannen für das Kino entwarfen, die andere zu Gewalt und Vernichtung anstifteten. Insofern kann man tatsächlich auch heute noch lustvoll darüber streiten, ob Züge des Dr. Caligari nicht in Adolf Hitler wiederzuerkennen sind, und wie sein von ihm in Szene gesetzter Schlafwandler das deutsche Volk symbolisiert, das sich Jahre später zum großen Massenmord steuern ließ.

Unbestritten ist auch, wie stark Einflüsse des Caligari-Films in Werken späterer Regisseure auftauchten. Darüber gibt auch die aktuelle Ausstellung, die kurz vor Beginn der 70. Berlinale ihre Pforten öffnete, Auskunft:”Du musst Caligari werden! – Das virtuelle Kabinett”, zu sehen noch bis zum 20. April in der Deutschen Kinemathek/Museum für Film und Fernsehen.