Mit Tempo 30 durch die Stadt

0
270

Bei einer WHO-Konferenz Mitte Februar 2020 in Stockholm werden Vertreter nationaler Verkehrsministerien ihre Strategie bis 2030 festlegen. Tempo 30 soll als weltweite Norm gefordert werden. Doch was bringt das?

Ich habe Hektik, gestikulierende Berufspendler und nervöses Gehupe erwartet, auf der Autofahrt durch das pulsierende Berlin. Mit dem PKW angereist, erlebe ich weder Hetzjagden noch habe ich das Gefühl, als schleichendes Verkehrshindernis wahrgenommen zu werden. Alle fahren gemächlich, auch auf breiten Hauptstraßen, denn im Innenstadtbereich gilt großflächig Tempo 30.

Eine Maßnahme des Senats in Deutschlands bevölkerungsreichster Stadt. 3,7 Millionen leben hier, 20.000 weitere ziehen jährlich her. Somit war der Senat gefordert, Lösungen zu finden gegen zunehmenden Straßenverkehr, Lärmbelastung und Luftverschmutzung.

Berlin gehört zu Deutschlands Städten, die den Grenzwert der EU-Kommission von durchschnittlich 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel überschritten haben. Laut Umweltbundesamt (UBA) haben Luftschadstoffe aus dem Straßenverkehr gesundheitsschädliche Wirkungen wie Asthma.

Es war einmal: Die Stadt mit dem ganz besonderen Duft. Berliner Luft vernebelte noch 2017 den viel befahrenen Kaiserdamm

Erste Erfolge für die Hauptstadt haben sich eingestellt, erklärt Senatssprecher Jan Thomsen gegenüber der DW: “Es gab einen Verkehrsversuch mit Tempo 30 seit April 2018, den wir ein Jahr lang gemessen und ausgewertet haben. Ergebnis: Die T-30-Anordnung hat einen Rückgang der Stickstoffdioxid-Immissionen um 2,3 Mikrogramm pro Kubikmeter Außenluft im Jahresmittel ergeben.” Das entspricht einem Rückgang von vier Prozent der NO2-Konzentration. 

Und auf das abgelaufene Kalenderjahr bezogen betrug der Rückgang an der Leipziger Straße sogar 11 Mikrogramm (von 59 auf 48). Thomsen führt dies teils auf die Nachrüstung von Fahrzeugen, insbesondere von Bussen, und auf insgesamt erneuerte Fahrzeugflotten zurück – zu einem guten Fünftel bis einem Viertel aber auf Tempo 30. Der Grund sei, dass die besonders schadstoffintensiven Beschleunigungsvorgänge bei Tempo 30 erheblich kürzer ausfallen.

An allen 17 Messstationen im Stadtgebiet wurde 2019 insgesamt ein niedrigerer Durchschnittswert ermittelt als 2018. Die Daten für den Luftqualitätsindex werden stündlich an jedem Tag erhoben. Ab Februar (2020) will der Senat eine App des Berliner Luftgütemessnetzes bereitstellen, um den mobilen Zugang zu den Daten jederzeit zu ermöglichen.

Tempo 30 für bessere Luft

Messreihen des UBA über drei Jahre an Berliner Hauptverkehrsstraßen zeigten ebenfalls reduzierte Schadstoffe. Nach Einführung von Tempo 30 gegenüber Tempo 50 sank NO2 um 28 Prozent. Die Werte sind allerdings abhängig von Wetter, Verkehrsmengen und dem Fahrverhalten. Gleichmäßiges Fahren wirkt sich günstiger auf die Luftqualität aus als abruptes Bremsen und stop and go. Fast alle Dieselfahrzeuge verursachen ebenfalls erhöhte Abgaswerte.

Fahrverbote für Diesel, die die Euro 6-Norm nicht erfüllen und Tempo 30 gelten an der Berliner Stromstraße

Berlins Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos) setzt neben Tempo 30 daher auf Diesel-Fahrverbote auf einigen stark befahrenen Straßen, insgesamt jedoch nur auf einer Strecke von 2,9 Kilometern. Günther argumentierte bei der Vorstellung ihre Pläne, die Gesundheit der Anwohner müsse man schützen, “aber wir wollen die Käufer von Dieselfahrzeugen, die von der Industrie betrogen wurden, nur so weit belasten, wie dies zwingend notwendig ist”.

Berlin und Buxtehude Vorreiter bei Tempo 30

Zur Verbesserung der Luftqualität und zur Reduzierung von Lärm hatte der Berliner Senat kurz vor der Jahrtausendwende die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h an neuralgischen Abschnitten eingeführt. Berlin war damals Vorreiter der europäischen Metropolen. Doch das Fahrzeugaufkommen in der Stadt hatte stetig zugenommen, mit negativen Folgen auf die Schadstoffbelastung 

Weltweit erste positive Erfahrungen mit offiziellen Tempo 30-Zonen machte Buxtehude: In der 40.000-Einwohner-Stadt, südwestlich von Hamburg gelegen, wurde Anfang der 1980er Jahre ein neues Wohngebiet mit mehrgeschossigen Häusern hochgezogen – in unmittelbarer Nähe zum Zentrum. Als daraufhin immer häufiger Raser in Neubausiedlung und Altstadt für Unmut sorgten, wurden am 14.11.1983 die ersten Tempo-30-Schilder aufgestellt. Zur Verengung der Fahrbahn ließ der damalige Bürgermeister Blumenkübel aufstellen. 

Die Maßnahmen wurde damals wissenschaftlich begleitet und zeigten positive Auswirkungen auf Sicherheit, Luftqualität und Benzinverbrauch.

Betonkübel verengen die Fahrbahn: Erste Tempo 30-Zone der Welt seit 1983 in Buxtehude

Was gegen das Rasen wirkt

Positive Effekte auf das Fahrverhalten beobachtet der Berliner Verkehrsplaner Eckhart Heinrichs entwickeln sich erst mit der Zeit, durch Wiederholung der 30er-Verkehrsschilder nach Kreuzungen und die Markierung der Zahl 30 auf der Fahrbahn. Auch Dialog-Displays, die die eigene gefahrene Geschwindigkeit widerspiegeln, “Radar”-Warntafeln oder Schilder mit Zusatz zur Begründung der Maßnahme wie Fußgänger, Schule, Kinder oder Lärmschutz führen zur Anpassung der ausgewiesenen Höchstgeschwindigkeit.

Die Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen hat Eckhart Heinrichs für das UBA analysiert. Langzeitbeobachtungen an 19 Berliner Hauptstraßen zeigten, dass die Verkehrsteilnehmer ihr Tempo immer weiter anpassen. Wurden einen Monat nach Einführung 39 Kilometer pro Stunde im Durchschnitt gemessen, lag das Mittel 36 Monate später knapp unter 34km/h. 

Raser stoppen: Schikanen wie Temposchwellen (Berliner Kissen) Fahrbahnverengungen oder künstliche Schlaglöcher zwingen zum Abbremsen oder langsamem Fahren

Berlin: Höhere Parkgebühren zur Abschreckung

Berlins Senatorin Günther würde Pendler gerne dazu bewegen, auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen. Vorerst sollen auf 75 Prozent der ausgewiesenen Parkflächen  Gebühren erhoben werden. Doch Anfang des Jahres finde ich noch erstaunlich viele kostenlose Parkplätze vor. Und die veralteten Automaten akzeptieren keine Kartenzahlung. Münzen habe ich nicht immer parat. Aber immer Glück, denn ich bekomme kein einziges Knöllchen.

Langfristig plant der Berliner Senat den Ausbau von Strecken für S- und U-Bahnen sowie Radschnellwegen und ein dichteres Radnetz.

Gehören längst zum Stadtbild: E-Scooter zum Ausleihen als Alternative für das Gehen

Sicherheit geht vor

DasMobilitätsgesetz sieht vor, den öffentlichen Nahverkehr attraktiver, sauberer und sicherer zu gestalten – durch einfache Tarife, niedrige Ticketpreise, die Einführung neuer Stadtbusse mit Elektroantrieb aus regenerativen Energien.

Oberstes Prinzip ist ‘Vision Zero’. Sicherheit geht vor, um die Zahl der Unfallopfer auf ein Minimum zu reduzieren. Vorbild für Berlin ist Schweden. Gemäß ‘Vision Zero’-Prinzips sind Fahrradwege durch Grünstreifen von Fahrbahnen getrennt. Verengungen an Bushaltestellen verhindern Überholen.

Die Schweiz hat ein Verkehrskonzept eingeführt, das menschliches Fehlverhalten berücksichtigt. Verkehrserziehung, Verkehrsregeln und drakonische Strafen bei Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung sollen dazu beitragen, Unfälle zu vermeiden. Rasern droht die Beschlagnahmung des Fahrzeugs, Führerscheinentzug und sogar Freiheitsentzug.

“Die Niederlande waren die ersten, die in den 1970er Jahren verkehrsberuhigte Wohnquartiere einrichteten. Damals frequentierten immer mehr Fahrzeuge die vielen engen Gassen des Beneluxstaates und gefährdeten die Sicherheit von Kindern und Senioren”, sagt Heike Aghte von der Europäischen Gesellschaft für Entschleunigung (Eugent) der DW.


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Schneller mit dem Drahtesel unterwegs

    So wie in Kopenhagen planen Reutlingen und Essen Radschnellwege durch die Stadt einzurichten. Der Ausbau des Fahrradstraßennetzes ist eh “überfällig”, meint Experte Christian Hochfeld von der Agora-Verkehrswende. “Wir merken, dass die Menschen aufs Fahrrad umsteigen, aber der öffentliche Raum ist nicht fair verteilt: Gerade parkenden Pkws wird zu viel Raum gegeben.”


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Günstig von A nach B

    Vier von fünf Städte setzen auf billigen Nahverkehr. In Bonn und Reutlingen soll es Klima-Jahrestickets nach Vorbild Wiens für 365 Euro geben, also für 1 Euro pro Tag. Mannheim und Herrenberg planen Preissenkungen bei Einzel-, Mehrfahrten- und Zeitkarten. Zustimmung von Experte Hochfeld: “Günstiger ÖPNV ist der richtige Weg nach vorne, allerdings muss die Qualität trotzdem gesichert sein.”


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Weniger lang warten

    Wie schön ist es, wenn man zur Bushaltestelle geht – und zack, kommt auch schon der nächste Bus. So macht Nahverkehr Spaß. Bonn will daher bei vielen Buslinien den Takt verdichten, so dass die Wartezeiten an der Haltestelle kürzer werden. Analoges planen Reutlingen und Essen. Hochfeld: “Taktverdichtung ist die absolute Grundvoraussetzung, dass Menschen in den Innenstädten auf den ÖPNV umsteigen.”


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Mehr Bushaltestellen

    Wir alle kennen das: Ist die Bushaltestelle zu weit weg von der Wohnung oder nicht nah genug am Fahrtziel, greift man vielleicht doch lieber zum Auto. Daher plant Reutlingen ein neues Stadtbusnetz mit zehn neuen Buslinien und hundert (!) neuen Haltestellen.


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Kein Warten für Busse

    Zusätzliche Busspuren sollen in Herrenberg Menschen zum Busfahren animieren: Im Bus fährt man dann an allen wartenden Autos vorbei und freut sich. Auch Grünschaltungen für Busse sind so ein Mittel. “Das führt dazu, dass die Menschen den ÖPNV als schneller und bequemer wahrnehmen”, kommentiert Hochfeld. “Wenn 40 Leute im Bus sitzen, sollten die Vorrang haben vor einem einzigen Menschen im Pkw.”


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Grüne Welle

    Stop-und-Go ist nicht nur eine Belastung für die Nerven der Autofahrer, sondern auch für die Umwelt. Beim Anfahren verbraucht ein Auto besonders viel Sprit und stößt viele Abgase aus. Herrenberg plant eine dynamische Steuerung von Ampeln, so dass Autofahrer auf der grünen Welle reiten können. Statt der Sekunden bis zur nächsten Rotphase soll angezeigt werden, bei wieviel km/h freie Durchfahrt ist.


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Pakete kommen mit dem E-Bike

    Mannheim errichtet einen “Micro-Hub”: einen Umschlagsplatz, auf dem Pakete von den Lastwagen auf E-Bikes verladen werden. Dadurch sollen weniger Lieferwagen in die Innenstadt fahren. “Eine gute Ergänzung”, meint Christian Hochfeld. Allerdings: “Wollen wir weiter zulassen, dass Menschen kleinste Einheiten online bestellen, die dann einzeln geliefert werden?” Hier sieht der Experte Nachholbedarf.


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Hybridbusse

    In Köln und vielen anderen Städten fahren sie bereits umher: Hybridbusse, die den Schadstoffausstoß reduzieren sollen. Mannheim will jetzt auch schadstoffarme Euro-6-Hybridbusse für die Innenstadt beschaffen. Vor allem Fahrradfahrer, die oft hinter Bussen herfahren müssen, wird das freuen.


  • Das planen fünf deutsche Städte für bessere Luft

    Go digital

    Nützt zwar nichts gegen Abgase, ist aber gut für’s coole image von Bus und Bahn: Viele deutsche Städte bieten bereits Apps an, mit denen sich ganz schnell und papierlos eTickets für den Nahverkehr kaufen lassen. Mannheim will das eTicket jetzt stark ausbauen. Herrenberg plant eine Stadt-Mobility-App, in der sich auch Leihfahrräder und CarSharing einfacher organisieren lassen.

    Autorin/Autor: Brigitte Osterath


Großbritannien: Entschleunigung als Philosophie

Die Maßnahmen in den Niederlanden zielten darauf ab, die Aufenthaltsqualität zu verbessern. Das gleiche Ziel verfolgt die Initiative 20’s Plenty for Us in Großbritannien, sagt Heike Aghte: “Hier ist das Ziel, die Geschwindigkeit innerorts auf 20 Meilen pro Stunde zu verringern, das entspricht 32m/h. Die Unterstützer wollen damit eine vernetzte freundliche Gesellschaft an Orten fördern, an denen es sich sicher anfühlt, zu plaudern oder zu spielen.” Temposünder können hier durch Fortbildungen (“speed awareness courses”) bei der Polizei die Höhe der Strafe reduzieren.

“Straßen und Plätze als Aufenthaltsorte und Begegnungsstätten sehen”, so argumentiert die Initiative 20’s Plenty for Us

Zeitverlust durch Tempo 30?

Diverse Messungen des ADAC (Automobilclub Deutschland) haben ergeben, dass bei kontinuierlichem Verkehrsfluss mit Tempo 30, begünstigt durch Kreisverkehr oder eine intelligente Ampelsteuerung, kaum Reisezeitverluste gegenüber Tempo 50 auftreten.

Und zu Jahresbeginn erklärte Brüssels Stadtverwaltung, die 30er-Geschwindigkeitsbegrenzung zum 1.Januar 2021 auf das gesamte Gebiet ausweiten zu wollen. Tempo 30 gilt aktuell für mehr als die Hälfte des belgischen Hauptstadtgebiets.

Einen ganz anderen Weg hat Pontevedra eingeschlagen: Die nordwestspanische Stadt hat vor 20 Jahren Fahrzeuge größtenteils ganz aus der Stadt verbannt. Den letzten Verkehrstoten dort gab es 2007.

Von einer autofreien Hauptstadt träumt auch Regine Günther. Die Berliner Verkehrssenatorin hat ihr Auto vor fast 20 Jahren abgeschafft. Und auch ich bin mindestens vier Stunden am Tag zu Fuß in Berlin unterwegs. So kann ich die Stadt bestens erkunden.