Wie Milliarden abgesaugter Fotos die Freiheit bedrohen

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Ein US-Start-up bietet Behörden die angeblich beste Gesichtserkennung weltweit: Mithilfe von Milliarden Fotos, die es laut einem Bericht überall im Netz eingesammelt hat. Kann man sein Recht am eigenen Bild einfordern?

Auch Tech-Konzerne wie Apple arbeiten mit Gesichtserkennung – hier beim iPhone X

Es braucht nicht viel Fantasie, um sich das Unheil auszumalen, das von einer wirklich tauglichen Gesichtserkennungs-App ausgeht: Schnell ein Foto gemacht, schon wäre jeder ständig identifizierbar, solange er sich im öffentlichen Raum aufhält. Für den Staat, aber auch für Räuber und Betrüger, Stalker und Vergewaltiger. Und wer eine politische Demonstration besucht, müsste befürchten, sofort zur Zielscheibe seiner politischen Gegner zu werden. Eine Recherche der “New York Times” (NYT) legt nun nahe, dass es eine solche App bereits gibt: vom New Yorker Start-up Clearview AI.

Drei Milliarden Fotos aus dem Netz

“Die neue Dimension bei Clearview liegt letztlich in dem Umfang der gesammelten biometrischen Daten”, sagt Frederick Richter, Vorstand der Stiftung Datenschutz. “Natürlich ist es erschreckend, wie einfach es ist, einen solchen Datenstamm aus allgemein zugänglichen Quellen wie den sozialen Netzwerken anzulegen.”

Clearview bedient sich laut dem NYT-Bericht bei Netzwerken wie Facebook und Youtube und durchsucht zahllose online verfügbare Fotos nach Gesichtern. In seinen Datenbanken speichert es Links und Informationen zum Bild selbst – so auch die in eine Vektorgrafik umgewandelten biometrischen Informationen, die jedes Gesicht einzigartig machen. In einer von der NYT veröffentlichten Broschüre gibt Clearview an, bereits drei Milliarden solcher Datensätze zu besitzen – das FBI komme im Vergleich nur auf 411 Millionen Bilder, also nicht mal ein Siebtel.

Die riesige Bilddatenbank kommt beim 3. Schritt der Gesichtserkennung ins Spiel

Clearviews Datenbank ist darüber hinaus mit einer Software verknüpft, die das Unternehmen laut einem durch die Zeitung veröffentlichten Dokument als die treffsicherste weltweit bewirbt: Die biometrischen Daten, die jedes Gesicht einzigartig machen, würden derart sicher umgesetzt, dass es sich bei jedem Treffer der Software zu 98,6 Prozent um dieselbe Person handelt.

Klarer Blick für Polizisten

Das Angebot des Start-ups richtet sich folglich auch an Strafverfolgungsbehörden: Ganz oben auf seiner Webseite verspricht Clearview “Technologie, die beim Lösen der kniffligsten Verbrechen hilft”. Laut NYT hat Clearview im vergangenen Jahr mehr als 600 Ermittlungsbehörden als Kunden gewonnen. Die Zeitung schildert, wie die Polizei im Bundesstaat Indiana die App testete und damit binnen 20 Minuten einen Fall lösten: Das Foto, das ein Passant von einem mutmaßlichen Schützen gemacht hatte, lieferte in den eigenen Datenbanken keine Treffer – aber die Clearview-Datenbank spuckte ein Video aus, in dessen Überschrift der Name des Verdächtigen auftauchte. Clearview schreibt auf seiner Webseite, seine Technologie habe den Behörden geholfen, “Hunderte flüchtige Kriminelle” aufzuspüren, “darunter Pädophile, Terroristen und Sexsklavenhändler”.

Dürfen die das?

Bleibt die Frage, ob Clearview selbst kriminell war, indem es massenhaft Fotos im Netz gesammelt hat. In den Nutzungsbedingungen von sozialen Medien wie Facebook, Instagram und Youtube wird die Praxis untersagt; Twitter verbietet sogar explizit, seine Daten zur Gesichtserkennung zu missbrauchen. Eine Anfrage der DW, wie das Unternehmen das sogenannte “Scraping” der Dateien rechtfertige, ließ Clearview bis zum Redaktionsschluss für diesen Artikel unbeantwortet. Clearview-Gründer Hoan Ton-That sagte der NYT: “Viele Leute machen das.” Facebook wisse Bescheid.

Auf der Webseite von Clearview und in der Berichterstattung werden als Kunden Behörden in den USA und in Kanada genannt. “Nach jetzigem Stand halte ich ein Modell wie Clearview hier nicht für umsetzbar – dass ein privates Unternehmen Fotos aus sozialen Netzwerken sammelt und dann den Ermittlern zur Verfügung stellt”, sagt Datenschützer Richter der DW. “Ich sehe keine Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten. Diese Art von Totalüberwachung auf privatwirtschaftlicher Ebene hier installieren zu wollen, das geht nicht.” 

In China übernimmt der Staat selbst die Überwachung – diese Polizistin nutzt Gesichtserkennung in ihrer Datenbrille

Das liegt vor allem an der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die seit 2018 in der EU gilt – und zwar auch für außereuropäische Unternehmen, die ihre Dienste in Europa anbieten. Die Grundverordnung sei vor allem da, damit Bürgerinnen und Bürger einfacher ihre Rechte an personenbezogenen Daten wahrnehmen können, schreibt der Kölner Medienanwalt Christian Solmecke auf DW-Anfrage: “Datenverarbeitende Unternehmen trifft daher eine weitreichende Informationspflicht. Gemäß der DSGVO müssen bei der Erhebung von Daten die betroffenen Personen über einen Katalog von zwölf verschiedenen Informationen informiert werden.” Das gelte selbst dann, wenn die Daten von einem Dritten wie Facebook oder Instagram stammten – binnen eines Monats müssten Betroffene darüber informiert werden, schreibt Solmecke: “Ein solcher Hinweis an die Betroffenen dürfte durch Clearview wohl nicht erfolgt sein, womit die Datenerhebung rechtwidrig gewesen ist.”

Konkret könnten Betroffene aus Europa laut Solmecke Auskunft über die personenbezogenen Daten verlangen, Schadenersatz geltend machen und sich bei Aufsichtsbehörden beschweren – in Deutschland ist das der Bundesdatenschutzbeauftragte.

Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit

Während der deutsche Innenminister Horst Seehofer gerade erwägt, eine generelle Gesichtserkennung an einigen Orten einzuführen, geht die EU-Kommission von Ursula von der Leyen den entgegengesetzten Weg: Im Entwurf eines Grundsatzpapiers zu Künstlicher Intelligenz ist die Rede davon, Gesichtserkennung zeitweilig ganz zu verbieten. “Man muss einen Kompromiss finden zwischen Sicherheit und Datenschutz”, findet Frederick Richter von der Stiftung Datenschutz. “Es gibt kein Super-Grundrecht – weder auf der einen noch auf der anderen Seite.”

Am Berliner Bahnhof Südkreuz testete das Innenministerium 2017 umfassende Gesichtserkennung – vorerst mit Freiwilligen

In den USA, wo Clearview aktiv ist, gibt es hingegen nicht einmal ein bundesweit gültiges Datenschutzgesetz. “Die Rechtsprechung seit den 60er-Jahren sagt, wo Privatsphäre nicht erwartet werden kann, dort kann man sie auch nicht beanspruchen”, sagt Richter.

Diese Maxime weitet Clearview offensichtlich auf das Internet aus. Kashmir Hill, die Reporterin der “New York Times”, schreibt in ihrem Artikel, sie habe monatelang niemanden bei Clearview erreicht. Im weiteren Verlauf ihrer Recherche habe sie Polizisten gebeten, ein Foto Hills über die App auszuwerten. Kurz darauf habe Clearview bei den Polizisten angerufen und gefragt, ob sie mit den Medien sprechen – “ein Zeichen, dass Clearview die Möglichkeit und in diesem Fall auch das Interesse besitzt, zu beobachten, nach wem die Strafverfolger suchen”.