Sir Simon Rattle zum 65. Geburtstag

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Am Sonntag erreicht der berühmte Maestro das, was vielerorts als Rentenalter gilt. Doch an den Ruhestand denkt der Chef des London Symphony Orchestra noch lange nicht.

Ein Tag wie jeder andere? Am 19. Januar begeht Sir Simon Rattle sein neues Lebensjahr am Pult. In der Londoner Barbican Hall dirigiert er ein Programm mit Ludwig van Beethoven und Alban Berg. Und wie üblich können Interessierte ihn schon vorher bei der Probenarbeit beobachten.

Klassische Musik vom Nimbus des Exklusiven und Elitären zu befreien und einem breiten Publikum zugänglich zu machen – das war stets Rattles Anliegen, vor allem während seiner 16 Jahre als Musikdirektor und Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.

Liverpool, Birmingham, Berlin

Simon Rattle wurde am 19. Januar 1955 in der englischen Stadt Liverpool geboren. Im Alter von 16 Jahren begann er sein Studium an der Royal Academy of Music, seine Fächer: Klavier, Schlagzeug und Orchesterleitung. Nach dem Studienabschluss 1974 gewann er den John-Player-Dirigentenwettbewerb, durfte daraufhin beim Bournemouth Symphony Orchestra assistieren, später beim BBC Scottish Symphony Orchestra und beim Royal Liverpool Philharmonic Orchestra.

1980 war es dann mit den Assistenzposten vorbei: Der 25-Jährige wurde Erster Dirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra – und führte in den folgenden 18 Jahren den provinziellen Klangkörper bis an die Weltspitze. Eiserne Disziplin, unbändige Neugierde und ein Mix aus klassischem und modernem Repertoire waren sein Erfolgsrezept – gepaart mit einer schier grenzenlosen Energie und sehr viel Enthusiasmus. “Ich bin geradezu manisch optimistisch”, bestätigte Rattle 2004 in einem Interview des Bayerischen Rundfunks.

In den 1980er Jahren arbeitete Rattle mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt zusammen. Für Rattle ein Meilenstein: “Ich habe erkannt, dass es eine ganze Welt gab, die ich noch erkunden musste”, sagte Rattle 2004 in einem Interview mit der DW. “Harnoncourt öffnete mir die Augen. Ich habe die Bedeutung der historischen Aufführungspraxis erkannt und musste mich zurückziehen: Ich las, spielte Cembalo und lernte Barockgeige.”

Die Förderung der musikalischen Jugend war Rattle stets ein wichtiges Anliegen – hier beim Bundesjugendorchester

Der Erfolg des City of Birmingham Symphony Orchestra wurde indessen auch im Königshaus registriert: 1994 erhob Königin Elisabeth II. Simon Rattle in den Adelsstand. Fünf Jahre später wählten die Mitglieder der Berliner Philharmoniker Sir Simon zu ihrem neuen Chef. 2002 trat er die Nachfolge von Claudio Abbado an.

Der schönste Dirigentenjob – und der schwierigste 

Es war der Beginn einer aufregenden und mitunter auch turbulenten Zeit. Gleich zu Beginn initiierte Rattle das “Education Program” der Berliner Philharmoniker und band Jugendliche aus sozial benachteiligten Teilen Berlins in Musik- und Tanz-Projekte ein – wie der millionenfach gesehene Dokumentarfilm “Rhythm is It!” beeindruckend dokumentierte. Musiker des Orchesters gingen in lokale Schulen, spielten dort und erklärten ihren Beruf .

Des Weiteren konnten mit der “Digital Concert Hall” nun Aufführungen der Berliner Philharmoniker weltweit gesehen werden. Rattle und die Berliner Philharmoniker gründeten ein eigenen Label und wurden 2004 zum UNICEF-Botschafter ernannt.

Viel Öffentlichkeitsarbeit und viel Erfolg: In den 16 Jahren seiner Amtszeit absolvierte Rattle 1.100 Konzertauftritte mit den Berliner Philharmonikern – und öffnete ihnen ein neues Repertoire. Dazu gehörten englische und nordische Komponisten, die bis dahin auf den Spielzetteln gefehlt hatten, Haydn und Mozart, und auch viel zeitgenössische Musik; der amerikanische Komponist John Adams war einmal “Composer in Residence”. Die deutsche Tageszeitung “Die Welt” titulierte Rattle als “Repertoire-Vielfraß”.

2004 produzierte die Deutsche Welle eine 13-teilige Rundfunkreihe mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern

Dafür trat allerdings – zumindest in der Wahrnehmung einiger – das Kernrepertoire der Berliner Philharmoniker, sprich: die deutschen Romantiker, in den Hintergrund. Klagen innerhalb und außerhalb des Orchesters wurden laut: Der einmalige Klang der Berliner Philharmoniker sei nicht mehr einmalig, das Orchester sei, in dem was es spielt und wie es es spielt, globalisiert und verwechselbar geworden. Rattle überstand die Kontroversen und bescherte dem Publikum in Berlin und weltweit auf Tournee viele Sternstunden.

“Es ist der schönste Dirigentenjob der Welt – und der schwierigste”, sagte Rattle der Tageszeitung “Die Welt” im Jahr 2015. “Und meistens beides gleichzeitig! Dieses Orchester hat es mir sehr klar gemacht, dass mit ihm keine Probe beginnen kann, ohne ein Konzept für den Klang, den ich erreichen will, in Kopf zu haben.”

Sternstunden der Klassik

2013 kündigte Sir Simon Rattle überraschend an,seinen Vertrag mit den Berliner Philharmonikern nicht verlängern zu wollen und wechselte 2017 zum London Symphony Orchestra. “Die Benennung Rattles ist genau der kreative Schock, den die Klassik hierzulande braucht” schrieb die Tageszeitung “The Guardian”. Ein Jahr lang pendelte Rattle zwischen beiden Posten bis Kirill Petrenko im August 2019 die Nachfolge in Berlin antrat.

Der Wahlberliner und seine dritte Ehefrau, die Mezzosopranistin Magdalena Kozena, gaben ihren Wohnsitz nicht auf, dafür wohnt Rattle jetzt einige Monate im Jahr in London. Durch weitere Projekte mit den Berlinern – aber auch mit dem Bundesjugendorchester, zu dessen Ehrendirigent Rattle benannt wurde – bleibt er dem deutschen Konzertpublikum weiter verbunden.

Die Entscheidung für London fiel nur wenige Monate vor dem Brexit-Referendum im Juni 2016. Hätte er den Vertrag unterschrieben, wenn er den Ausgang gewusst hätte? “Gute Frage” war seine lapidare Antwort.

Leuchtendes Vorbild: In Rattles Kopf gibt es noch viele Ideen und Pläne…

Neben London und Berlin ist Sir Simon Rattle oft in den USA unterwegs: früher mit dem Los Angeles Philharmonic und dem Boston Symphony Orchestra, zunehmend auch mit dem Philadelphia Orchestra. Er tritt regelmäßig mit den Wiener Philharmonikern auf – mit denen er den Zyklus aller Beethoven-Sinfonien aufnahm – und ist “Principal Artist” des Orchestra of the Age of Enlightenment aus Großbritannien.

Bei Rattles Energie, Entdeckerfreude und Leidenschaft für Neues sind es die besonderen Momente, die bei ihm in Erinnerungen bleiben. “Es ist gewiss etwas, das in diesem Saal passiert” – damit meinte der Dirigent die Berliner Philharmonie – “bei dem die Leute einfach überwältigt werden mit dem Geist des Musizierens. Und wir wissen alle, wenn es geschehen ist. Auf einmal wird der höhere Gang eingeschaltet.” 

Kurzum: Mit 65 bleibt Sir Simon Rattle im Turbogang.