Johnson oder Corbyn? Die Qual der Wahl

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Sie gilt als Richtungswahl – wegen des Brexit und der politischen Zukunft des Landes. Konservative und Labour versprechen Milliardeninvestitionen, aber die Spitzenkandidaten haben ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Die Kandidaten kämpfen bis zum letzten Meter. Boris Johnson besuchte in seiner Schlussrunde vor allem Wahlbezirke mit knapper Labour-Mehrheit, die für den Brexit gestimmt hatten. Er muss die Wähler in Orten wie Dewsbury in West Yorkshire herumkriegen. Jeremy Corbyn wiederum versucht die “rote Wand” seiner Partei in den Midlands und im Norden zu verteidigen und in Universitätsstädten wie Bristol junge Wähler zu überzeugen. Der Vorsprung der Tories in den Umfragen, seit Wochen stabil, schrumpfte in den letzten Tagen, was zu Nervenflattern bei der Regierungspartei führte.

Analysen zufolge ist rund ein Fünftel der Wähler kurz vor Ende noch unentschieden. Noch nie war die Parteibindung so fließend, die allgemeine Frustration so hoch. “Ich habe irgendwie abgeschaltet; wenn ich ehrlich bin, konzentriere ich mich nicht mehr darauf” – die Antwort eines Passanten im Zentrum Londons steht stellvertretend für viele.  

Schlachtfeld Gesundheitssystem

Das Bild vom vierjährigen Jack, der im Krankenhaus von Leeds mit Verdacht auf Lungenentzündung auf dem Boden liegen musste, weil kein Bett für ihn frei war, brachte Boris Johnson am Montag schwer in Bedrängnis. Ein Reporter hielt ihm im Interview sein Handy mit dem Foto hin. Aber statt sich für die Zustände zu entschuldigen, steckte der Premier das Telefon kurzerhand in die Tasche. Erst auf Drängen räumte er dann ein, das Bild sei “fürchterlich”.

Nach zehn Jahren konservativer Regierungen und harten Sparkurs steht das Gesundheitssystem am Rand des Zusammenbruchs. Die Wartezeiten in den Notaufnahmen sind endlos, es fehlt an Betten, Personal und Geräten. Die Tories versprechen Besserung: Sie würden 40 neue Krankenhäuser bauen und Zigtausende Krankenschwestern sowie Ärzte einstellen. Dem Faktencheck in der britischen Presse aber hielt nur wenig stand: Die versprochenen Investitionen würden nicht einmal die früheren Kürzungen ausgleichen, die Neubauten seien nur Renovierungen und die nötigen Mediziner gebe es einfach nicht. 

Hier haben die Tories ein Glaubwürdigkeitsproblem. Hinzu kommt der Streit um mögliche Privatisierungspläne, wenn Großbritannien nach dem Brexit ein Handelsabkommen mit den USA abschließen sollte. Das finden viele Briten so bedrohlich, dass Präsident Trump am Rande des Nato-Gipfels erklärte, er wolle das NHS nicht einmal “auf einem Silbertablett” angeboten bekommen.

Woher Jeremy Corbyn das Geld für seine Wahlversprechen nehmen will, ist unklar

Hier liegt die Labour Party deutlich vorn: Die Wähler vertrauen ihr bei der Gesundheit mehr. Sie verspricht vier Prozent pro Jahr mehr Ausgaben für das Gesundheitssystem, mehr als die Konservativen, und weitere milliardenschwere Ausgabensteigerungen im Sozialbereich – wobei weder bei Jeremy Corbyn noch bei Boris Johnson klar ist, woher das zusätzliche Geld kommen soll.

Alles dreht sich um den Brexit

Wenn auch für viele Briten das Gesundheitssystem durchaus wahlentscheidend sein kann – es weist vieles darauf, dass es diesmal vor allem um den Brexit geht. Es ist der Labour Party im Wahlkampf nicht gelungen, die Themen soziale Ungerechtigkeit, marode Schulen oder überlastetes Bahnsystem nach vorn zu schieben. Und Jeremy Corbyns verworrene Haltung zum Brexit – erst mit der EU nachverhandeln und dann ein zweites Referendum ansetzen – ist ein Fehlschlag.

Chancenarmer Kandidat: Count Binface, übersetzt etwa “Graf Mülleimer”, tritt weder für Labour noch die Tories an

Hier punktet Boris Johnson mit seinem Slogan “Bringt den Brexit zu Ende” – auch wenn er vieles verspricht, was er voraussichtlich gar nicht halten kann: etwa dass er im nächsten Sommer keine Verlängerung der Übergangszeit beantragen und in elf Monaten locker ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließen will. Daran zweifeln nicht nur die Unterhändler in Brüssel, sondern auch seine eigene Experten. Auch behauptet Johnson, die geplante Grenzregelung für Nordirland werde keine neuen Kontrollen mit sich bringen – das Gegenteil ist wahr.

Aber diese Einzelheiten sowie kleine und größere Lügen am Wegesrand scheinen kaum eine Rolle zu spielen. “Wir beenden die Unsicherheit”, verspricht Boris Johnson, “wir setzen um, wofür ihr gestimmt habt” und “wir wollen voran gehen” sind seine Standardslogans. Und sie finden Gehör, denn selbst unter den “Remainern”, die den Brexit abgelehnt haben, glauben viele es müsse jetzt endlich Schluss sein mit dem Thema. 

Im jüngsten Wahlspot spielen die Tory Strategen clever mit diesem Gefühl. Im Hintergrund spielt Weihnachtsmusik und Boris Johnson hält mit verführerischem Lächeln einer Wählerin wechselnde Plakate hin “Mit ein bisschen Glück… werden wir den Brexit zu Ende bringen… wenn das Parlament ihn nicht wieder aufhält…oder der andere Typ gewinnt”. Angelehnt ist das an die populären Film “Tatsächlich Liebe”, wobei eine Labour-Kandidatin sich beschwerte, die Tories hätten ihre Idee geklaut. Sie hatte die Szene schon im November für sich benutzt. Aber über solche Rücksichten ist man in diesem Wahlkampf voller Lügen und Fake-News längst hinaus.

Die Kandidaten haben ihre Schwächen

Boris Johnson hat ein Frauenproblem. Fragen nach der Zahl seiner Kinder beantwortet er regelmäßig nicht, und seine jahrelangen Seitensprünge sind bekannt. Die zuletzt bekannt gewordene Affäre mit der Unternehmerin Jennifer Arcuri steht für ein krisenhaftes und farbiges Liebesleben. Andere Hinweise für Macho-Attitüden wiegen dagegen wohl schwerer: So als er im Unterhaus die Klagen einer Abgeordneten über Hasskampagnen in den sozialen Medien als “Humbug” abtat oder er seine Gegner als “streberische Mädchen” verunglimpfte. Das Umfrageinstitut YouGov fand heraus, dass nur 38 Prozent der Frauen Boris Johnson mögen, dagegen 46 Prozent der Männer.

Wahlkampf mit Fisch: Boris Johnson sucht auf dem Fischmarkt nach Wählerstimmen

Jeremy Corbyn dagegen hat ein Problem mit seiner jüdischen Wählerschaft. Seit Jahrzehnten bei der Labour Party zu Hause, wollen inzwischen zwei Drittel der jüdischen Wähler ihre Stimme einer anderen Partei geben. Der Grund: ein anschwellender Streit über Antisemitismus in der Partei. Das Problem war entstanden, seitdem die Partei unter Corbyn einen massiven Linksruck vollzogen hatte. Viel zu spät rang sich der Parteichef am Ende des Wahlkampfs eine halbherzige Entschuldigung ab. Außerdem gilt Corbyn als schwach, unpatriotisch und wenig entscheidungsfreudig. 

Und schließlich gibt es eine Altersschere: Unter Vierzigjährige stimmen mehrheitlich eher für die Labour Party, ab vierzig nehmen die Tory-Wähler zu. Fast 900.000 Jungwähler ließen sich dieses Mal neu registrieren – von ihnen wollen zwei Drittel ein zweites Referendum, ihre Themen sind Klima und Migration. Aber wird Labour von einer “Jugendwelle” profitieren können? Das britische Mehrheitswahlsystem ist notorisch unberechenbar, denn am Ende können in einem Wahlkreis 50 Stimmen in die eine oder andere Richtung entscheiden. “Der Sieger nimmt alles”, heißt es hier und auf der Siegerstraße sieht sich immer noch Boris Johnson.