Die Macht der Maske

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Brennende Barrikaden, Plünderungen, Schlagstöcke und Tränengas. Gewalt durch Demonstranten oder auch durch Sicherheitskräfte. Woher kommt diese enthemmte Gewalt? Was geschieht mit uns, wenn wir nicht erkennbar sind?

Auch das richtige Demonstrieren will gelernt sein und so finden sich auf deneinschlägigen linken Webseiten praktische Hinweise, wie sich “mensch” (eine genderneutrale Formulierung) auf mögliche Krawalle vorbereiten und gleichzeitig das Vermummungsverbot umgehen kann:

“Vermummen sollte mensch sich eigentlich besser nicht. Die Bullen erkennen einen sowieso nicht, wenn mensch komplett schwarz gekleidet ist. Die Vermummung zieht dann meistens nur Aufmerksamkeit auf einen und die Gruppe und kann als Verhaftungsgrund gelten. Wenn aber alle um einen rum vermummt sind, sollte mensch, um andere zu schützen und selbst nicht aufzufallen, sich auch vermummen,”  heißt es dort. 

Aber bloß nicht mit Sturmhaube oder ähnlichem: “Maximal ein Halstuch und Kapuze oder Brille,” so lautet die Empfehlung. Denn seit 1985 gibt es in Deutschland ein Vermummungsverbot, ähnliche Regelungen gibt es auch in vielen anderen Ländern.

Wenig Stoff, große Wirkung

Das kleine Stück Stoff vor dem Gesicht schützt den Vermummten nicht nur vor Identifizierung, es versetzt ihn auch in eine andere Rolle. “Es geht um Identitätswechsel. Ich darf meine normative Rolle verlassen!”, erklärt der Berliner Kriminalpsychologe Hans-Joachim Clausen.

Diese Art der Vermummung ist etwas ganz anderes als die Maskierung des Bankräubers, der nicht erkannt werden will.

Masken enthemmen, auch beim Londoner “Million Mask March” gegen das Establishment:

Die meisten Psychologen und Forscher stimmen darin überein, dass die Maskierung den Menschen enthemmt. “Indem ich mein Gesicht abdecke, spiegele ich mich nicht mehr in den Gefühlen des Anderen. Deshalb entlädt sich die emotionale Energie – ohne Rücksicht auf die Reaktion des Gegenübers. Ich würde es nicht unbedingt als eine Veränderung der Psyche sehen, sondern als Enthemmung als Entladung und Verschiebung der Emotionen”, so Maskenforscher Prof. Richard Weihe.

Der Mensch ist derselbe und seine Psyche auch, aber sein Verhalten ändert sich: “Die Maske kann natürlich helfen, entscheidungsfreudig zu sein”, so Clausen. “Ich kann es einfacher machen. Wenn ich meine Identität verschleiere, dann bin ich enthemmter und dadurch auch machtvoller.” 

Enthemmte Gewalt 

Positiv drückt sich diese Enthemmung etwa bei Maskenbällen aus, bei denen ursprünglich der Adel den strengen Regeln entfliehen und sich jenseits der verbindlichen Normen und Stände amüsieren konnte. Moderne Sexpartys funktionieren nach dem gleichen Muster und nutzen ähnliche Mittel. Ansatzweise findet sich dies auch im Karneval wieder, wo der “Narr” durch Maskierung oder Verkleidung eine andere Rolle einnimmt und ebenfalls jenseits der üblichen Regeln Dinge tut oder sagt.

Die abstrakte Figur schützt die Identität und stärkt den Zusammenhalt

Genauso lassen sich aber auch negative Emotionen hinter der Maske enthemmter ausleben, ohne auf gesellschaftliche Normen Rücksicht nehmen zu müssen. “Man nimmt sich aus der Verantwortung für sein eigenes Handeln heraus, indem man sich zum Typen oder zu einer abstrakten Figur macht. Ich kann nicht mehr identifiziert werden und ich kann auch nicht mehr belangt werden für mein Handeln. Jetzt ist mein Handeln gewissermaßen konsequenzlos”, erläutert Theater- und Literaturwissenschaftler Richard Weihe,  der als Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Accademia Teatro im schweizerischen Tessin lehrt.

Die Maskierung bewirkt also eine Verwandlung, das Verhalten ändert sich. “Das bin doch nicht ich, das passt nicht in mein Selbstbild bzw. Selbstkonzept”, so beschreibt auch Hans-Joachim Clausen das Erstaunen über das eigene enthemmte Verhalten.

Durch die Maske fühlt man sich geschützt, enthemmt und machtvoll

Die Maskierung gibt dabei Schutz und Sicherheit. Der Vermummte sieht seinen Gegner nur durch einen Schlitz, ohne dass sein Gegenüber ihn oder seine Gefühle erkennt.  “Meine Angst erkennt der Gegner nicht”, so der Psychologische Psychotherapeut Clausen. Der Vermummte kann zuschlagen, ohne sein Gesicht, seine Gefühle, sein Mitgefühl oder Gnade zeigen zu müssen. 

Masse und Macht 

Nicht von ungefähr treten gewaltbereite Demonstranten in der undefinierbaren Gruppe oder auch im “schwarzen Block” auf. Das schützt nicht nur den Einzelnen, es erhöht auch die Schlagkraft. Der Einzelne geht im schwarzen Block oder in der uniformen Masse auf. “Der Ausdruck ist nicht mehr die Rebellion des Einzelnen, sondern die Choreografie des Protests. Durch eine Gleichschaltung der Figuren entwickelt die Aktion eine ungeheure Wirkung,  wie auch die Wirkung von Revolutionen”, so Weihe. 

Macht der Masse: Der Einzelne geht im Schwarzen Block auf und passt sein Verhalten der Gruppe an

Durch die Gruppendynamik  ändert sich auch das Verhalten des Einzelnen. “Man kommt irgendwo in Bereiche, wo die Grenzen so überschritten werden, dass man gar keine andere Handlungsalternativen mehr hat. Man kommt gar nicht mehr aus der Sache heraus, sondern versucht nur noch, sich mit Gewalt aus dieser Situation zu befreien”, so Clausen.

Die Gruppe bewirkt eine Art “Ent-Persönlichung”. Der Einzelne wird nicht mehr als Individuum, sondern als Masse wahrgenommen. In der Anonymität der Gruppe findet der Einzelne die soziale Billigung. “Wenn ein maskiertes Gruppenmitglied angegriffen wird, fühlt sich jedes Individuum gleichermaßen eingeschränkt, indem es das Schicksal des angegriffenen Kumpels emotional teilt”, sagt Clausen.

Zumal sich die Gruppe im Recht sieht. “Grundsätzlich kämpfen diese Gruppen für ein hehres Ziel, für ein moralisch höheres Ziel oder eine Organisation. Sie können sich sozusagen auf eine übergeordnete Instanz berufen”, sagt der Berliner Kriminalipsychologe.

 Gewaltexzesse auf beiden Seiten

Im Recht sehen sich meist auch qua Definition die “Sicherheitskräfte”, die den Demonstranten entgegentreten. Sie sorgen im Idealfall für Sicherheit und für eine Durchsetzung der geltenden Regeln, für “Recht und Ordnung”.

Was nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie auch tatsächlich “im Recht” sind und sich regelkonform verhalten. Immer wieder kommt es auch zu Gewaltexzessen durch Sicherheitskräfte, vor allem wenn diese nicht als Individuum zu identifizieren sind und sich entsprechend enthemmt verhalten.

Hilfloser Kampf eines Einzelnen gegen Hongkongs martialische Sicherheitskräfte

Geschützt durch ihre einheitlichen Uniformen, martialischen Kampfausrüstungen und Schutzmasken lassen sich auch Sicherheitskräfte zu Gewaltattacken hinreißen, wenn sie hoffen oder sicher sein können, nicht erkannt zu werden, namenlos zu bleiben, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auch sie treten in der undefinierbaren Gruppe den Demonstranten entgegen – ebenfalls um den Einzelnen zu schützen und um die gemeinsame Schlagkraft zu erhöhen. 

Gewalt durch Gruppendynamik 

Beide Seiten – gewaltbereite Demonstranten wie Sicherheitskräfte – verstehen sich als geschlossene Gruppe. “Wir” gegen “die”. Die Gruppe gibt die Richtung und die nun geltenden Regeln vor, der anonyme Einzelne passt sein Verhalten der Gruppe an.

“Der Frust, der sich in mehreren Lebensbereichen aufgestaut hat, kann bei einer Demonstration von beiden Seiten stellvertretend endlich kanalisiert werden (Aggressionsabfuhr). Keiner weiß, wer es war”, so Clausen.

Geschützt, aber identifizierbar: Polizitsen beim G20-Gipfel in Hamburg

Deshalb existiert etwa in den meisten Ländern der Europäischen Union eineKennzeichnungspflicht von Polizisten durch ein Namensschild oder durch eine Identifikationsnummer. Dies soll vor unrechtmäßiger Polizeigewalt schützen und das Vertrauen in die Polizei stärken.

Kreatives Hongkong: Gewalt mit den eigenen Waffen schlagen

Angesichts der massiven Proteste versuchte die Peking-nahe Regierung in Hongkong ein Vermummungsverbot durchzusetzen. Die Demonstranten trotzen dem Verbot zwischenzeitlich mit originellen Ideen, etwa mit nicht verbotenen Halloween-Masken oder indem sie sich Masken der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam, des chinesischen Präsidenten Xi Jinping und anderer hoher Regierungsvertreter aufzusetzen.

Kreative Ideen zur Identitätsverschleierung bleiben in Hongkong nötig

Masken-Forscher Richard Weihe ist begeistert von der Idee: “Das ist eine geniale Idee! Denn eine Maske ist eben auch ein Bild, das eine bestimmte Wirkung ausübt. Bei solch einem Politikerbild der Gegenpartei entsteht eine Hemmung bei den anderen, zuzuschlagen oder zu schießen.”

Solch kreative Ideen zur Identitätsverschleierung bleiben weiter nötig, denn das auf totale Überwachung setzende Peking drängte Hongkongs Oberstes Gericht, das zuvor aufgehobene Vermummungsverbot wieder in Kraft zu setzen.

Geltungssucht statt Verschleierung

Traditionell tragen auch Attentäter oftmals eine Maskierung. Nicht nur, um unerkannt zu bleiben, sondern auch, weil durch die Maske die Hemmschwelle zum Töten sinkt. Durch die Maskierung schlüpft der Attentäter in die Rolle der gnadenlosen Killermaschine. Die Maskierung schafft die nötige Distanz zum Opfer. Sie verleiht dem Attentäter die Macht, unnahbar und ohne sichtbare menschliche Regung zu töten.

Demütigend für geltungssüchtige Attentäter: Verpixelt statt berühmt

In jüngster Zeit verzichteten einige Attentäter bewusst auf eine Maskierung. Sie wollen erkannt, endlich wahrgenommen werden. “Sie stehen im Mittelpunkt, wie auf einer Bühne. Dadurch können sie ihr mangelndes Selbstwertgefühl kompensieren. Sie üben nicht nur Macht aus, sondern versuchen vermeintlich zu kontrollieren und teils kollektive Angst zu verbreiten”, so Psychotherapeut Clausen.

Solche Attentäter wollen sich mit ihrer Tat brüsten, suchen Anerkennung. Deshalb verfassen sie vorab Bekennerschreiben oder streamen ihre Morde live im Internet. Sie lassen ihre bürgerliche Maske fallen und zeigen ihr wahres Gesicht, auch das ist Teil ihrer menschenverachtenden Geltungssucht. 


  • Hongkong: Gottes Liebe im Straßenkampf

    Von der Kanzel auf die Straße

    Alan Keung ist einer von mehreren Kirchenvertretern, die bei den seit Monaten andauernden Protesten in Hongkong versuchen, Menschen zu helfen – häufig inmitten einer aufgeheizten Stimmung. Hier beruhigt er einen aufgebrachten Passanten, der Demonstranten wegen einer Straßenblockade beschimpft. “Meine Mission ist es, der Menge Gottes Liebe zu bringen”, sagt Keung.


  • Hongkong: Gottes Liebe im Straßenkampf

    Mit Helm, Warnweste und Piuskragen

    Um als Helfer erkannt zu werden – und zu seinem Schutz – hat Keung ein Kreuz auf seinen Helm gemalt, und er trägt eine neongelbe Weste. Der 28-Jährige hat sich einem Team von freiwilligen Rettungssanitätern angeschlossen, die Menschen vor allem helfen, Tränengas aus den Augen zu waschen. Wenn ihn jemand um geistliche Unterstützung bittet, nimmt sich Keung auch Zeit für ein kurzes Gebet.


  • Hongkong: Gottes Liebe im Straßenkampf

    Gegen die Schmerzen

    Gemeinsam mit anderen Freiwilligen hilft der Pastor einem Fußgänger, der von Tränengas getroffen wurde, seine Augen auszuwaschen. Die Hongkonger Polizei setzt bei den Ausschreitungen immer wieder Tränengas, Pfefferspray und Wasserwerfer ein, während gewalttätige Demonstranten die Sicherheitskräfte zuletzt unter anderem mit Brandsätzen und Pfeil und Bogen angriffen.


  • Hongkong: Gottes Liebe im Straßenkampf

    Hilfe für alle

    Wenn er bei Protesten im Einsatz ist, schlägt Keung sich nicht auf eine Seite. “Manchmal helfen wir auch verletzten Polizisten, die unsere Hilfe brauchen.” Im Juli habe seine Freiwilligen-Gruppe sich nach einem Angriff an einem Bahnhof vor die Sicherheitskräfte gestellt, um sie vor wütenden Passagieren zu schützen.


  • Hongkong: Gottes Liebe im Straßenkampf

    Zwischen den Fronten

    Keungs Hilfseinsätze sind nicht ungefährlich – so wurde er selbst schon von Tränengas getroffen. Zuletzt kam es in Hongkong vor allem an der Polytechnischen Universität zu Ausschreitungen. Die Polizei drohte mit dem Einsatz scharfer Munition. Am Mittwochabend erklärte die Regierung, sie beobachte die Lage genau, um zu sehen, ob die für das Wochenende geplanten Kommunalwahlen stattfinden könnten.


  • Hongkong: Gottes Liebe im Straßenkampf

    “Nicht jemand, der nur in der Kirche bleibt”

    Keung ist seit sieben Jahren Pastor einer rund 30-köpfigen Gemeinde im Nordosten der chinesischen Sonderverwaltungszone. “Ich bin nicht jemand, der nur in der Kirche bleibt und über Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Moral spricht und ignoriert, was an der Front vor sich geht”, sagte er. “Ich möchte in der Menge sein, wenn ich gebraucht werde.”


  • Hongkong: Gottes Liebe im Straßenkampf

    “Jeder von euch ist beteiligt”

    Was er bei den Protesten erlebt und lernt, baut der Pastor – hier mit Schülerinnen und Schülern nach einer Gebetsstunde auf dem Dach des Kirchengebäudes – mitunter in seine Predigten ein. “Fühlt euch nicht, als wärt ihr kein Teil davon”, sagte er kürzlich vor jungen Gemeindemitgliedern. “Jeder von euch ist die Zukunft Hongkongs und der Welt. Jeder von euch ist beteiligt.”

    Autorin/Autor: Helena Kaschel, Bernd Kling