Die Nobelpreisreden von Olga Tokarczuk und Peter Handke: Zwei Welten

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Olga Tokarczuk und Peter Handke hielten am frühen Samstagabend ihre Nobelvorlesungen. Die polnische Schriftstellerin analysierte die Welt und die Literatur. Und Handke? Der blieb bei sich.

Wie immer am 10. Dezember, diesmal einem Dienstag, werden in Stockholm in einer höchst feierlichen Zeremonie die Nobelpreise überreicht. Ein Höhepunkt der Nobelwoche und für viele das interessantere Ereignis ist jedoch der Festakt ein paar Tage zuvor, bei dem der – oder die – mit dem Literaturnobelpreis Gewürdigte eine Rede hält. Diese hat gewöhnlich mit dem eigenen Schaffen, dem Verständnis der Welt und der Literatur zu tun. In diesem Jahr sind bekanntlich zwei Literaturnobelpreisträger auszuzeichnen. Und so musste das in den Festsaal der Akademie geladene Publikum am späten Samstagnachmittag (07. Dezember) Aufmerksamkeit für gleich zwei Redner aufbringen.Olga Tokarczuk, die zuerst sprach, und Peter Handke.

Literatur erschließt die Welt

Presse war zu dem intellektuellen Begängnis nicht zugelassen, doch die Vorträge wurden live gestreamt und gleichzeitig schriftlich im Original, in englischer sowie schwedischer Übersetzung im Internet veröffentlicht. Man konnte also versuchen, auf Englisch mitzulesen, während Olga Tokarczuk eine Stunde lang mit ihrer geübten Lesestimme auf Polnisch vortrug. In europäischen Sprachen ähnliche Wörter und Namen, die als Anker dienen konnten, gab es genügend – solche wie Internet und Wikipedia, Christoph Kolumbus und Thomas Mann, Transformation und Struktur. Denn die polnische Schriftstellerin hielt eine große Rede, in der es tatsächlich um den Zustand der Welt und ihren Begriff von Literatur und deren Aufgabe ging.

Tokarczuk sprach eine Stunde lang, länger als vorgesehen, und es war deutlich, dass ihr das, was sie in ihrer anspruchsvollen Rede sagte, ein Anliegen war. Sie sprach davon, was Literatur für den Realitätsgewinn leisten könne, und ihre Argumentation hatte nichts mit dem für sie unwesentlichen Unterschied zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion zu tun. Während die “Lüge eine gefährliche Massenvernichtungswaffe geworden” sei, all die neuen Formen der Realitätserzählung wie Bilder, Film, Produkte künstlicher Intelligenz in der Wahrnehmung zweidimensional blieben, könne die Literatur eine vollständig andere Dimension der Welt erschließen.

Olga Tokarczuk am Tag der Bekanntgabe der Nobelpreis-Entscheidung – auf Lesereise in Bielefeld

“Als wäre die Welt ein Lebewesen”

“Literatur ist eine der wenigen Sphären, die versuchen, uns nahe an den harten Fakten der Welt zu halten, denn ihre eigentliche Natur ist immer psychologisch, sie konzentriert sich auf die Gedanken und Motive der Figuren, sie enthüllt uns die Erfahrungen einer anderen Person, die sonst unzugänglich für uns blieben, oder sie verführt den Leser schlicht zu einer psychologischen Interpretation ihres Verhaltens.” Dabei wurzle Literatur in der Zärtlichkeit, die wir anderen entgegenbringen. Tokarczuk verlangt eine neue Erzählhaltung, eine Stimme, die nicht um Ich-Befindlichkeiten kreist, sondern die so etwas wie übergeordnet, quasi außenstehend sei. Ein Stimme wie in der Bibel, denn: “Wer sagt das: Am Anfang war das Wort?”

Tiefgründig und nüchtern analysiert die Nobelpreisträgerin die Funktion von Literatur. “Die Welt stirbt, und wir versagen, das zu erkennen.” Gier, mangelnder Respekt vor der Natur, endlose Rivalitäten und Verantwortungslosigkeit hätten die Welt auf den Status eines Objekts reduziert, sie in Stücke geschnitten, verbraucht und zerstört. “Das ist es, weshalb ich glaube, dass ich Geschichten erzählen muss, als wäre die Welt ein Lebewesen.”

Kein Wort Handkes zu seiner Haltung

Und dann sprach Handke, nach kurzer Pause, nur halb so lang wie Olga Tokarczuk und mit völlig anderem Gestus. Immer wieder stockend, hie und da sogar um Fassung ringend. Handke hatte im Vorfeld “Versöhnliches” angekündigt, doch wer noch gehofft hatte, der österreichische Schriftsteller würde die Gelegenheit nutzen, um seine Haltung zu Serbien und den Kriegsverbrechen des Balkankriegs gerade zu rücken, sah sich enttäuscht. Erwartet hatte das sicherlich kaum jemand, zumal die beiden Schriftsteller ihre Nobelvorlesungen schon Mitte November abgegeben hatten. Die Schwedische Akademie brauchte Zeit, um die Reden ins Schwedische und Englische übersetzen zu lassen.

Es waren zwei grundverschiedene Reden, und doch hatten sie auf merkwürdige Weise Gemeinsamkeiten. Beide sprachen von ihrer Mutter, erzählten von Begebenheiten, beide thematisierten sie die Bedeutung der Natur. Aber während Tokarczuk höchst gegenwärtig davon sprach, was Literatur angesichts Klimanotstand und politischer Krise erreichen könne, sprach aus Handkes Rede eine große Sehnsucht zurück. Handkes, seiner ursprünglichen slowenischen Heimat verbundener Grundton hätte in die Zeit der schwärmerischen literarischen Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts gepasst.

Peter Handke am Tag der Bekanntgabe (10.10.) in seinem Garten in Chaville bei Paris

Episoden für ein Schreiberleben

Der Nobelpreisträger bediente sich für seine Rede vor allem bei sich selbst. Er begann seine Vorlesung mit einem langen Zitat aus seinem dramatischen Gedicht “Über die Dörfer” von 1981, das für sein weiteres Werk richtungweisend war. “Spiele das Spiel. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. (…)”, mit diesen Worten begann seine Vorlesung.

Peter Handke berichtete von zwei Episoden, die er als Kind aufgesogen hatte und die “für sein Schreiberleben entscheidend” waren, Erzählungen von einer Magd “mit weichen Händen” und über Brüder seiner Mutter. Ein verlorenes Kind, Heimweh und eine Todesnachricht spielen darin eine Rolle. Schöne, rätselhafte Sätze kommen in Handkes Rede vor, “Die Verneigung vor der Blume ist möglich”, oder, “Die Natur ist das einzig stichhaltige Versprechen”. Vielleicht könnte er sich bei “Das Haus der Kraft ist das Gesicht des Anderen” im Gedanken der Zärtlichkeit sogar mit Olga Tokarczuk treffen – wäre da nicht Handkes Losgelöstheit.

Lyrisches zum Ausklang

Die von Tokarczuk eingeforderte harte Realität klingt in Handkes poetischem Vortrag lediglich an, als er seinen Oslo-Besuch im Jahr 2014 erwähnt. Aber nicht etwa die Proteste gegen ihn von damals, sondern die rührenden Gedichte, die ihm ein lyrisch veranlagter Mann in einer Hafenbar vortrug. Am Ende seiner Vorlesung trug auch Handke ein Gedicht vor, Tomas Tranströmers “Romanska bagar” (Romanische Bögen), vielleicht eine Verbeugung vor den Gastgebern. Es las es auf Schwedisch und so holprig, dass auf den Gesichtern der Zuhörer mehr Irritation als Begeisterung zu erkennen war. Oder lag das an der Rede?