HRW fordert Polizeireform in Chile

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Human Rights Watch (HRW) wirft der chilenischen Polizei vor, Demonstranten brutal misshandelt zu haben. Interview über die Grenzen der Polizeigewalt in einem Rechtsstaat mit Lateinamerika-Direktorin Tamara Taraciuk.

Deutsche Welle: Wie weit dürfen Staat, Regierung und Sicherheitskräfte in Chile gehen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten?

Tamara Taraciuk: Der Staat ist verpflichtet, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren, jedoch im Rahmen internationaler Standards. Diese Standards besagen, dass die Anwendung von Gewalt immer in einem angemessenen Verhältnis zur Bedrohung stehen muss, und dass Sicherheitsbeamte weitestgehend auf gewaltfreie Mittel zurückgreifen und die Situationdeeskalieren sollen, bevor sie Schusswaffen gebrauchen.

Tamara Taraciuk, Lateinamerika-Direktorin von Human Rights Watch

Ist der Einsatz von Schusswaffen unvermeidlich, sollen die Sicherheitsbeamten Zurückhaltung üben und risikobewusst handeln. Sie sollen vorrangig nicht-tödliche Waffen verwenden, um so das Risiko für Verletzungen zu verringern und menschliches Leben zu schützen. Die bewusste Anwendung tödlicher Gewalt ist nur zulässig, wenn sie zum Schutz des Lebens unbedingt erforderlich ist.

Welches sind Ihrer Meinung nach die schwerwiegendsten Verstöße gegen diese Normen in den vergangenen zwei Wochen in Chile?

Wir haben schwere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die hauptsächlich von den Polizisten begangen wurden, sowohl auf der Straße als auch in den Haftanstalten. Auf den Straßen wurden Schrotflinten verwendet, die von Natur aus unpräzise sind. Außerdem wurden laut Untersuchungen auch Patronen verschossen, die nicht nur aus Gummi waren. Diese verursachten sehr schwere Verletzungen, bei 220 Personen an den Augen. 16 dieser Personen sind bereits blind und viele könnten es bald werden. Es wurde auch andere Munition und Tränengas auf die Demonstranten abgefeuert, was tödliche Folgen haben kann.

Darüber hinaus haben wir Fälle von Missbrauch in Haft dokumentiert, wo Frauen und sogar Kinder gezwungen wurden, sich nackt auszuziehen oder Kniebeugen machen mussten. Zudem gibt es mindestens fünf Todesfälle, an denen Mitglieder der Streitkräfte beteiligt sind.

Welche Empfehlungen aus dem Aufgabenkatalog, den Human Rights Watch Chiles Präsident Sebastián Piñera überreicht hat, sehen Sie als die dringendsten an?

Unser Bericht legt zwei wesentliche Empfehlungen vor. Erstens, dass den Missbrauchsopfern vor chilenischen Gerichten Gerechtigkeit widerfahren möge. Zweitens ist es dringend geboten, eine tiefgreifende Polizeireform voranzutreiben. Ich meine damit zum Beispiel die Verbesserung der internen Rechenschaftspflicht bei der Polizei, eine unbefristete Aussetzung der Verwendung von Schrotflinten, und die Durchsetzung des Verbots von Nacktkontrollen.

In wieweit kann dazu die Kontrolle durch Menschenrechtsorganisationen beitragen, zum Beispiel das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH), Human Rights Watch selbst, die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH), oder das Hochkommissariat für Menschenrechte der UNO?

Die Arbeit von Human Rights Watch besteht darin, die Menschenrechtslage in mehr als 90 Ländern, einschließlich Chile, zu dokumentieren. Dadurch wird Sichtbarkeit geschaffen und es können Maßnahmen angestoßen werden, mit denen Probleme gelöst werden. In diesem Fall ist es wichtig, dass es ähnliche Diagnosen von verschiedenen Akteuren gibt, sowohl vom INDH, das in Chile hervorragende Arbeit geleistet hat, als auch von anderen internationalen Organisationen. Ein konsistenter Befund ist wichtig, aber das Entscheidende ist jetzt, dass wir gemeinsam eine Polizeireform anstoßen, die  diese Art von Polizeigewalt in Zukunft verhindert.