Heimat – Zwischen Ideal und Kampfbegriff

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Heimat, der Begriff hat viel mit Abgrenzung zu tun, dem “Wir und die Anderen”. Beim Literatürk-Festival in Essen erzählen vier Autoren und Autorinnen von ihrem Leben als “Andere” in Deutschland.

Sollte man überhaupt noch über das Thema sprechen? Eine Diskussion über “Heimat” führen, diesen Kampfbegriff, der von verschiedenen Seiten so unterschiedlich definiert und instrumentalisiert wird? Muss man noch eine Debatte führen, die vor allem Menschen aufgezwungen wird, die von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft als nicht zugehörig betrachtet werden?

Heimat ist kein realer Ort

Man muss nicht, aber man kann doch, fanden die Veranstalter des 15. Literatürkfestivals in Essen, machten #irgendwasmitheimat zum Hashtag und Motto des internationalen Literaturfests und luden vier der Autoren und Autorinnen des im Februar erschienen Essaybandes “Eure Heimat ist unser Alptraum” aufs Podium. Selten wurde der kaum zu fassende Begriff intelligenter, witziger und aufklärerischer gedreht und gewendet als von Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Nadia Shehadeh und Mithu M. Sanyal.

Heimat, das war noch nie ein realer Ort. Heimat war der Sehnsuchtsort der Romantiker, aber auch der Nationalstaat, wie er am Ende des 19. Jahrhunderts definiert wurde. Ein Ideal, mit dem sich heutzutage das regional verankerte Gefühl von Vertrautheit verbindet, als Gegenvorstellung zur globalisierten Welt. Oder beschreibt der Begriff nur ein Konstrukt, das zur Ab- und Ausgrenzung taugt, dazu, eine restriktive Migrationspolitik durchzusetzen, erst recht seitdem es in Deutschland vereint mit Bau- und Innen- ein “Heimatministerium” gibt? Ein Kampfbegriff, mit dem Rechtspopulisten versuchen, Menschen, die nicht in ihr Weltbild passen, die Existenzberechtigung abzusprechen, ist “Heimat” schon seit Jahrzehnten.

Mithu M. Sanyal liest ihrem Text “Zuhause” aus dem Essayband “Eure Heimat ist unser Alptraum”

Heimat ist Kampf

Die vierzehn Autorinnen und Autoren von “Eure Heimat ist unser Albtraum” leben alle in erster, zweiter oder dritter Generation in Deutschland. Trotzdem sind sie immer wieder mit der bewusst oder unbewusst rassistischen “No go-Frage” “Wo kommst Du her?” konfrontiert. “Es ist die Frage, die die Spreu vom Weizen trennt”, zitiert die Journalistin und Autorin Mithu M. Sanyal aus ihrem Text “Zuhause”. “Genauer, die Menschen, die hierher gehören, von den anderen.” Hinter dieser Frage stehe ein gesellschaftliches Problem, für das sie die “Drei-H-Formel” aufgestellt hat: “Haut, Haare und Hämoglobin.” Haut und Haare entscheiden, ob es sich um einen Menschen mit “Migrationshintergrund” handelt, das “Hämoglobin” bezeichnet das Abstammungsprinzip. Doch merke: “Drinnen und Draußen sind weder eindeutige, noch klar voneinander getrennte Kategorien.” Die Vorstellung von Deutschland als einem homogenen Land führt Sanyal wie auch der Berliner Politikwissenschaftler Max Czollek auf den Faschismus zurück.

Die in Berlin lebende Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo wird als dunkelhäutige Britin oft gefragt, wo sie herkommt. Ihre eigenen Eltern versuchten, sich durch Anpassung zu integrierten und sprachen mit ihrer Tochter nicht offen über Rassismus. “Meine Kinder sollten sich nicht schämen”, sagt die Autorin des Beitrags “Liebe”. Deshalb spricht Otoo mit ihrem Sohn über Rassismus, über ärgerliche oder beängstigende Vorfälle in der U-Bahn, über verdachtsunabhängige Polizeikontrollen oder Pädagoginnen, die schwarzen Jugendlichen nicht glauben. Otoos Sohn hat seine eigene Herangehensweise. Er identifiziert sich als Schwarzer “mit einem großen S” und wählt den Weg der “verbalen Selbstverteidigung”: “Mein Zuhause ist ein Ort, für den ich gekämpft habe. Ich habe gekämpft, damit ich mich wohlfühlen kann, Berlin als meine Heimat zu bezeichnen. Diesen Kampf zu führen, ist Teil meiner Heimat geworden. Inzwischen liebe ich ihn.”

Die Publizistin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo gewann 2016 den Ingeborg Bachmann-Preis

“Radikale Vielfalt ist längst Realität”

Max Czollek wurde 2018 mit seiner wütenden Streitschrift “Desintegiert Euch!” bekannt. “Gegenwartsbewältigung” ist weiter sein Thema. Es gehe darum, eine Gesellschaft zu gestalten, in der man ohne Angst verschieden sein kann – im Sinne von Theodor W. Adornos utopischem Denken – statt sich mit Erwartungen und Zuschreibungen zu beschäftigen. “Mit dem Ende der Aufführung im Gedächtnis- und Integrationstheater würde die Bühne frei für eine Anerkennung radikaler Vielfalt, die in Wahrheit schon viel realer ist als die Fantasie kultureller Hegemonie. Die deutsche Gegenwart ist längst unentwirrbar.”

Demokratie vertrage sich nicht mit der “Friedhofsruhe” des besonders deutschen und historisch bedingten Harmoniebestrebens. Gerade jetzt müsse man darüber nachdenken, wie sich bestimmte neo-völkische Konzepte in unseren Vorstellungen von Zugehörigkeit spiegelten. “Man kann aus dem Beispiel Halle auch den Schluss ziehen, dass wir nicht nur eine sichere, sondern auch eine andere Gesellschaft brauchen”, formuliert der Antisemitismusforscher und Lyriker. Die radikale Vielfalt müsse zur Grundlage der Gesellschaft werden, der Punkt, von dem man ausgehen könne.

Max Czollek ist Lyriker, Essayist und Kurator

“Vor dem Rassismus kam die Verwirrung”

Die 1980 in Gütersloh geborene Blog-Autorin Nadia Shehadeh, deren palästinensischer Vater aus der Westbank kommt, erzählt von ihren Erfahrungen als Kind. “Bevor der internalisierte Rassismus kam, kam die Verwirrung.” Es musste ein Fehler ihrer Eltern sein, dass ihr Name nicht mit “sch”, sondern nur “sh” geschrieben war, schämte sie sich, als sie schreiben lernte. Als die Lehrer fragten, woher sie denn komme, hielt sie ihre Ratlosigkeit für fehlendes geografisches Wissen. “In der Schule lernt man, dass es Ausländer gibt – und Ausländer sind scheiße.”

Inzwischen schreibt Shehadeh seit fast zehn Jahren über Themen wie Rassismus, die ihr unter den Nägeln brennen. Hauptberuflich arbeitet sie als Bildungsberaterin bei der Stadt Bielefeld. In ihrem lustigen Essay “Gefährlich” über das “internationale Steckdosenessen”, (gemeint sind frittierte oder gebratene Schweinenasen) beschreibt sie das in Wirklichkeit gar nicht so lustige jahrelange “kostenlose Abstumpfungstraining gegen Mikro-Aggressionen”.

Nadia Shehadeh, Autorin und Bildungsberaterin der Stadt Bielefeld

Ist der Begriff Heimat noch sinnvoll zu gebrauchen?

Was bedeutet auf der politischen Ebene das Wiederauftauchen des Heimatbegriffs? Es reiche nicht, wie der Grünen-Politiker Robert Habeck zu sagen, man müsse den Heimatbegriff positiv vereinnahmen, meint Max Czollek. Eine Vorstellung von mehreren Heimaten sei nicht angedacht. “Die Realität ist eine ausschließende, und das macht diesen politischen Heimatbegriff so toxisch.”